Sommerferien. Das hieß zu Sowjetzeiten: Ferienlager. Im Zelt oder im Bungalow, am Meer oder am See. Für die besonders verdienten Schüler und Schülerinnen ging es in die prestigeträchtigen Lager am schwarzen Meer, für alle anderen in eines der zahlreichen Betriebsferienlager überall in Russland. Da der Sommer im Ferienlager zum Großteil von der Regierung finanziert wurde versprach er zum Einen neue Bekanntschaften, Abenteuer und Erholung für sehr wenig Geld, zum Anderen aber auch ideologische Erziehung, „kindergerechte“ Militär-Spiele und Paradieren.

Auch wenn so manches großes Lager, wie die berühmte Elite Erholungs- und Erziehungstätte „Artek“ auf der Krim heute aus Geldmangel seinen Betrieb eingestellt hat, wird die Tradition der Ferienlager weiter gepflegt. Immer noch bildet das zahlreiche Angebot an Ferienlagern für Kinder jeden Alters eine billige Alternative zum Familienurlaub an der russischen Schwarzmeer-Küste, in der Türkei oder Ägypten. An einem sonnigen Wochenende in den langen russischen Sommerferien besuchte ich eines dieser Lager etwa 15 km außerhalb von Ufa.

Ein umzäuntes Gelände in hügeliger Landschaft, vielleicht einen halben Quadratkilometer groß, am Hang die Bungalows, 400 Kinder im Alter von 6 – 16, unten in der Ebene ein große Kantine, ein Fußball-, ein Basketball- und ein Volleyballfeld, hinter einer geschlossenen Baumreihe ein kleiner See. Alles in schlechtem Zustand und augenscheinlich seit Sowjetzeiten nicht verändert oder gar renoviert.

Der Tag beginnt für die 30 Kinder und Jugendlichen in meiner Gruppe unsanft. Um kurz vor 8 beginnen die beiden Erzieherinnen von draußen gegen die Türen der 6er Zimmer zu hämmern. Jetzt zack, zack, aufstehen und ab zum Frühstück. Wer es nicht von selbst schafft, unter der Decke hervorzuschlüpfen und sich der morgendlich klammen Kälte in den schlecht isolierten Räumen auszusetzen, dem wird kurzerhand von den größeren Jungs geholfen. Einmal hochgekommen entschädigt auf dem Weg zum Gemeinschaftswaschbecken vor dem Haus, die frühe Sonne für den unkomfortablen Tagesbeginn. Kaltes Wasser im Gesicht und ein paar Züge der frischen Luft tun ihr übriges und man geht munter zum Frühstück. Auf dem Weg hangabwärts der an vielen weiteren Bungalows vorbeiführt, vermischen sich die Gruppen und bilden einen Strom der sich am Eingang der Kantine kurz staut und sich dann auf die einzelnen Tische verteilt. Es gibt schwarzen Tee, Brot und Käse, eine Art Porridge und hart gekochte Eier. Zum Nachtisch werden große Orangen verteilt. Die Stimmung ist der Tageszeit angemessen. Man isst für sich und geht wieder. Ich fühle mich erinnert an meine Aufenthalte im Schullandheim zu Grundschulzeiten.

Nach dem Frühstück werden Zähne geputzt und die Jugendlichen ziehen sich mit ihren Kameraden auf die Zimmer zurück. Man legt sich nochmal aufs Bett und quatscht oder schaut mal ins Handy.

Dann kommt plötzlich Bewegung in die Gruppe, alle versammeln sich auf Geheiß der Erzieherinnen vor dem Bungalow. Nach einer kurzen Anwesenheitskontrolle, setzt sich der Tross in Bewegung Richtung Ausgang. Ich bleibe im Lager mit einigen Freunden die mich hierher eingeladen haben. Erst später werde ich aufgeklärt, wohin man ging. Außerhalb des Lagers warteten einige Busse, um die Kinder auf die umliegenden landwirtschaftlich genutzten Felder zu verteilen. Dort findet das statt, was das russische Ferienlager vom deutschen Schullandheim definitiv unterscheidet – Arbeitseinsatz. Man übernimmt leichte Aufgaben, wie z.B. Unkraut jäten.

Zum Mittagessen um 12 ist die Gruppe wieder zurück im Lager, in der Kantine gibt es Kartoffeln mit Hühnchenfleisch und Borschtsch. Getrunken wird ein russischer Most aus Cranberries.

Danach treten die Kinder auf dem, in der Mitte des Hang gelegenen Paradeplatz an. Was folgt ist ein Überbleibsel der sowjetischen Pioniertradition. Unter den gehissten Flaggen der Republik Baschkortostan und der russischen Föderation wird paradiert. Noch ist das nur Übung. Ein junger Mann der 2 Jahre bei der russischen Marine gedient hat, zeigt den Jugendlichen wie die militärischen Befehle lauten. Kurze Zeit später marschiert die Gruppe von 30 Jugendlichen unter der Führung eines besonders ehrgeizigen 12-jährigen Jungens auf dem Platz immer im Kreis. Nach etwa einer halben Stunde ist die sehr ernsthaft geführte Übung erfolgreich abgeschlossen und die Jugendlichen zerstreuen sich wieder. Es folgt Freizeit.

Viele der Jungen finden sich unten auf dem Fußballplatz ein und liefern sich unter den Augen einiger junger Mädchen ein chaotisches Großfeldspiel. Mein Team verliert 10:9.

Parallel laufen oben im Lager die Vorbereitungen für ein groß angelegtes Gruppenspiel das am Abend stattfinden soll. Worum es geht kann mir keiner so richtig erklären. Ich lasse mich überraschen.

Als die Sonne gegen Nachmittag schwächer wird, beginnt das Spektakel.

Die erste Aufgabe für die Gruppen, die wie ich nun verstehe jeweils eine Schule repräsentieren (in meinem Fall die polnische Schule von Ufa), ist die Parade. Rund um den beflaggten Kiesplatz, nehmen etwa 15 Gruppen Stellung ein. Sie sind jeweils durch uniforme Kriegsbemalung, Armbänder oder Halstücher eindeutig zuordenbar. Eine Gruppe nach der Anderen absolviert ihre vorgeschriebenen 2 Runden paradieren unter den Augen von 4 älteren Frauen, die augenscheinlich die Parade abnehmen. Zum Schluss jeder Parade tritt der Gruppenführer hervor, richtet einen militärischen Gruß an die Damen und salutiert. Nach der Entlassung kehrt die Gruppe geschlossen an ihren Platz zurück. Die Jugendlichen sind erkennbar freudig erleichtert als sie die Parade erfolgreich absolviert haben. Die Sache wird ernst genommen.

Der zweite Teil der Spiele beginnt direkt im Anschluss an die Parade, auf ein Kommando der Spielleiterinnen, 2 jungen Sportstudentinnen, stöbt die Menge plötzlich auseinander. Überall rennen groß und klein, ich verliere kurz die Übersicht, vor mir stürzt ein Junge auf dem abschüssigen Kiesplatz, ihm wird aufgeholfen und er rennt weiter, die Spiele sind eröffnet.

Nach einiger Beobachtung verstehe ich was sich da vor meinen Augen abspielt. Es ist ein Wettbewerb. Zwischen den Schulen. Es gibt Stationen. Dort werden verschiedene körperliche Aufgaben erledigt. Am Klettergerüst hangeln, Körbe werfen, Schubkarrenlauf, über Reifen springen, unter Seilen kriechen, auf Balken balancieren. Auf Zeit. Die Gruppe die am schnellsten alle Aufgaben erfolgreich bestanden hat, gewinnt. Doch das ist nicht alles.

Parallel findet eine Art Militärspiel statt. In jeder Gruppe gibt es Schützen, Opfer und Sanitäter. Die Schützen versuchen die durch Zielscheiben gekennzeichneten Opfer der anderen Gruppen auszuschalten. Als Bewaffnung dienen mit Sand gefüllte Socken. Trifft die Socke, so ist das jeweilige Opfer aus dem Spiel. Nur der Sanitäter kann ihn wieder ins Spiel bringen, indem er eine bestimmte Aufgabe erledigt. Was das genau ist konnte ich leider nicht herausfinden.

Das Lager ist für die nächsten 2 Stunden Schauplatz dieses sehr ehrgeizig geführten Wettkampfes. Jugendliche schreien und rennen, kommen plötzlich zu Zwanzigst hinter der Ecke des nächsten Bungalows hervorgeschossen. Es herrscht Chaos.

Meine Gruppe liegt gut im Rennen um die vorderen Plätze bis die letzte Aufgabe alle Siegchancen vernichtet. Anhand einer gezeichneten Karte muss eine Flagge gefunden werden. Jede Gruppe hat in Vorbereitung für eine Andere eine Flagge versteckt und eine Karte gezeichnet. Wir suchen die der Waldorfschule Ufa, wir suchen, und suchen. Die anderen Gruppen sind schon längst fertig, die Sieger sind gekürt, aber der Ehrgeiz ist ungebrochen. Das Vorhaben wird erst abgebrochen als sich die Sonne langsam dem Horizont nähert. Schluss. Es ist Duschenszeit.

Nach der Gemeinschaftsdusche in den abbruchreifen Sanitäranlagen unten bei den Sportplätzen, ist der lange Tag vorbei. Man zieht sich auf die Zimmer zurück, trinkt einen letzten Tee in gemeinschaftlicher Runde (der Wasserkocher gehört hier in jedem Zimmer zur Grundausstattung) und greift beim Rundgang der Erzieherinnen noch eine kleine Süßigkeit ab. Als das Licht ausgeht und man sich in die Decken gemummelt hat, beginnt der beste Teil jedes Ferienlagers. Die Nachtgespräche, wegen derer man am nächsten morgen wieder so schwer aus dem Bett kommt.

Viktor Sommerfeld, August 2014