Kommt man in ein fremdes Land, ist man in bestimmten Situationen verunsichert, wie man sich verhalten soll. Darf man über bestimmte Themen reden? Muss man als Mann Frauen auch die Hand geben? Vor einigen Tagen ist mir ein kleines russisches Büchlein mit dem Titel Moschna?/Njelisja? (Можно?/Нельзя? – dt. Kann man?/Darf man nicht?) in die Hände gefallen. Es erklärt in Russland lebenden Ausländern typische russische Verhaltensweisen und kulturelle Besonderheiten. An ausgewählten Beispielen werden die Ratschläge der russischen Autoren mit eigenen Erfahrungen aus den vergangenen Monaten verglichen.

Kann man?/Darf man nicht?: In der Vorstellung der Russen ist die „ideale Familie“ eine „traditionelle“ Familie, die mehrere miteinander lebende Generationen umfasst (Großvater und Großmutter, Vater und Mutter, Kinder, Enkel). Die traditionelle russische Familie ist nach dem Autoritätsprinzip aufgebaut. Das Oberhaupt einer solchen traditionellen Familie ist der „Ernährer“ – der Mann. In der Regel ist er der einzige Erwerbstätige in der Familie und ihm obliegt es, bei der Besprechung möglicher Probleme des familiären Lebens Entscheidungen zu treffen. Die Hauptaufgaben der Frau sind die der „Ehefrau“ und der „Mutter“. Sie kümmert sich um die Sauberkeit im Haus, kocht Essen, erzieht die Kinder, usw. […] Die Kinder werden finanziell von den Eltern unterstützt […], häufig bis ins Erwachsenenalter hinein. Die Eltern leisten nicht nur materielle Unterstützung, sondern stellen auch sicher, dass sie das Handeln ihrer Kinder kontrollieren und Einfluss auf wichtige Entscheidungen ihrer Entwicklung haben: Wahl des Freundeskreises, des Berufs, des Arbeitsplatzes, usw.

Puh, bei einer solchen Beschreibung wird wohl jede Feministin dieser Welt einen Anfall bekommen. Auch für viele Deutsche erscheint ein solches Familienbild in Zeiten von Elterngeld und Kinderkrippe wie aus dem Mittelalter entnommen. Glücklicherweise weisen die Autoren am Ende des Kapitels selbst darauf hin, dass es sich hierbei um ein Idealbild handelt und die Wirklichkeit häufig anders aussieht. Trotzdem ist es tendenziell richtig, dass das russische Familienbild antiquierter ist als das deutsche. Im Vergleich zu Deutschland, wo die Gleichstellung von Mann und Frau selbstverständlich ist und über Frauenquoten diskutiert wird, scheint Russland hinterherzuhinken.

Scheidungen sind hier genauso üblich wie in Deutschland, dafür heiraten Russen im Durchschnitt früher. Anfang 20 zu heiraten und die ersten Kinder zu bekommen ist der Normalfall. Als 22-Jähriger Deutscher wird man in Russland öfter mal gefragt, ob man Frau und Kinder zu Hause in Deutschland allein gelassen habe.

Kinder leben sehr lange bei ihren Eltern. Ein wichtiger Grund dafür sind die hohen Immobilienkosten. Kaum ein Student kann es leisten, von seinem Geld eine eigene Wohnung zu mieten. Der Aspekt des Einflussnehmens auf die Entwicklung der Kinder ist sicherlich auch wichtig.

Kann man?/Darf man nicht?: Viele Ausländer, die in Russland leben, haben den Eindruck, dass Russen an öffentlichen Plätzen sehr ernst, bisweilen sogar mürrisch erscheinen und wenig lächeln.[…] In öffentlichen Verkehrsmitteln kann das Verhalten von Russen gegenüber einem fremden Menschen als aggressiv wahrgenommen werden.

Dies ist etwas, was einem gleich in den ersten Tagen in Russland auffällt. Die Menschen haben in der Öffentlichkeit nur selten ein Lächeln übrig und wirken unfreundlich. Kassiererinnen zum Beispiel bringen während des Kassierens kaum mehr als ein „Paket nada?“ (Пакет надо? – dt. Brauchen Sie eine Tüte?) über die Lippen. Kein „Guten Tag“, kein „Schönen Tag noch“. Dabei darf man jedoch nicht annehmen, dass ein fehlendes Lächeln bedeutet, dass jemand einem negativ gegenüber eingestellt ist. Im Gegenteil kann man dann ein Lächeln umso mehr wertschätzen, wenn man eins erhalten sollte. Dafür muss man anmerken, dass Russen – hat man sie denn einmal kennengelernt – überaus gastfreundlich und liebenswürdig sind. Man muss sich einfach die Mühe machen, zu ihnen durchzudringen.

Kann man?/Darf man nicht?: Russen haben ihre eigene Vorstellung von Genauigkeit und Pünktlichkeit. […] Sie richten sich ziemlich frei nach der Zeit, weswegen viele der Meinung sind, dass Russen unpünktlich sind. So ist sogar eine Verspätung von bis zu zehn Minuten völlig in Ordnung. Jedoch gibt es auch Situationen, bei denen eine Verspätung nicht angebracht ist.

Es existiert das oft genannte Stereotyp der deutschen Pünktlichkeit. Demgegenüber steht die angebliche russische Unpünktlichkeit. Ich würde es aber eher als „zeitlich flexibel“ bezeichnen. Man muss sich eben mit unzuverlässigen Verkehrsmitteln und schlechten Infrastruktur arrangieren. Wenn man mal zu einem Treffen ein paar Minuten zu spät kommt, ist das nicht das Ende der Welt. Tatsächlich sollte man aber zu bestimmten Anlässen auf keinen zu spät kommen, etwa beruflichen Terminen oder Prüfungen. Mir persönlich gefällt das lockere Umgehen mit zeitlichen Vereinbarungen – vermutlich weil ich selten der Pünktlichere bin…

Kann man?/Darf man nicht?: Russen finden es normal, wenn sich Zeitabschnitte intensiver Beschäftigung mit Pausen und Zeitabschnitten des „Nichts-Tuns“ abwechseln. […] Vielleicht wird genau durch so eine Arbeitseinstellung wesentlich die stereotype Vorstellung der russischen „Faulheit“ verbreitet.

Die Einteilung in Phasen der Arbeit und Phasen der Pause lässt sich absolut bestätigen. Ein Bürotag in Russland wird durch viele Teepausen aufgelockert. Alle zwei bis drei Stunden versammelt man sich zum Tee- oder Kaffeetrinken in der Küche und lässt die Arbeit Arbeit sein. Um die Mittagszeit herum wird das Mittagsmahl eingenommen. Nach den Pausen setzt man sich dann aber mit umso größerem Einsatz wieder an die Arbeit.

Kann man?/Darf man nicht?: Russen verletzen häufig Gesetze (im weitesten Sinne dieses Wortes: Nichteinhalten von Sicherheitsbestimmungen, Nichtbeachten von Verkehrsregeln, Tricksen bei der Einkommensteuererklärung) und halten dies in den meisten Fällen für nicht unmoralisch.

Korruption ist Russland sehr verbreitet. Aus dem Bekanntenkreis habe ich zum Beispiel erfahren, dass einige Professoren an den Universitäten ein „Entgelt“ einfordern, damit der Student eine Prüfung bestehen kann. Immer wieder hört man, dass man sich seinen Führerschein erkaufen kann. Auch sonst wird gern mal zum Erreichen des persönlichen Vorteils mit der Wahrheit flexibel umgegangen. Als wir zu Beginn unseres Aufenthalts mit einem Freund als Dolmetscher in Ufa nach einer geeigneten Wohnung suchten, stießen auf das Problem, dass kaum ein Vermieter jemanden eine Wohnung  vermieten möchte, mit dem er nicht kommunizieren kann. Da griff unser Freund auf eine Notlüge zurück. Er erzählte der potenziellen Vermieterin, dass wir Wissenschaftler aus Deutschland seien – ausgesucht aus einem Bewerberkreis von 100 Leuten – um die lokalen baschkirischen Traditionen zu studieren. Tatsächlich haben wir die Wohnung dann bekommen. Sein Kommentar: „Um das zu erreichen, was man möchte, muss man manchmal auf Unwahrheiten zurückgreifen.“

Kann man?/Darf man nicht?: Russische Fahrer und Fußgänger halten sich leider nicht besonders an Verkehrsregeln, das bedeutet Fußgänger überqueren Straßen da, wo ihnen passt und nicht nur bei Fußgängerübergängen. Autofahrer halten sich möglicherweise nicht an Verkehrszeichen und fahren sogar bei Rot über die Ampel. Denken Sie daran, dass in Russland der Fußgänger stets das Auto vorbeilässt, sogar wenn er über einen Zebrastreifen geht.

Der Verkehr in Russland wird den meisten Westeuropäern chaotisch erscheinen. Eine dreispurige Straße wird bei viel Verkehr oft von fünf oder mehr nebeneinander fahrenden Fahrzeugen gleichzeitig genutzt. Überholmanöver sind sowohl von links als auch von rechts üblich, dabei macht der Schnellere durch Hupen auf sich aufmerksam. Überhaupt wird in Russland mehr gehupt als in Deutschland, allein um das „Recht des Stärkeren“ – also des größeren Autos – klarzustellen. Um als Fußgänger an einem Zebrastreifen die Chance zu haben, die Straße zu überqueren, muss man das Anhalten der Autofahrer provozieren. Man stellt sich mit einem Fuß auf die Straße, aber so, dass man die Möglichkeit hat, sich doch noch zurückzuziehen. Dabei sollte man Augenkontakt mit den Autofahrer aufnehmen, um sicher zu sein, dass sie einen gesehen haben. Fußgängerampeln werden wenig beachtet. Wenn die Straße frei ist, geht man einfach. Wenn die Straße viel befahren ist, versucht man es mit oben erläuterter Methode. Dabei gilt jedoch die Devise: Lieber einmal  mehr warten als das Leben zu verkürzen!

David Witkowski, Juli 2013