In der Orthodoxen Kirche wird am 19. Januar jeden Jahres der in allen vier Evangelien beschriebenen Taufe Jesu Christi gedacht. Das Element Wasser erlangt an diesem Tag eine herausragende Bedeutung, es wird zum „großen Heiligtum“ geweiht. Dessen reinigende Kraft, so heißt es im russischen Volksglauben, wäscht alle Sünden hinfort. Zum festen Bestandteil dieses Tages gehört deshalb auch das rituelle Bad in einem Fluss oder See – mitten im strengsten Winter.

Sergiev-Kathedrale in Ufa

Die Luft ist kalt an diesem Morgen. Es herrschen minus 15 Grad. Die Gehwege liegen unter hohem Schnee begraben. Dennoch sind an diesem Sonntag nicht unbedingt wenige Leute auf den Straßen anzutreffen. Vor allem in Nähe der Kirchen wächst deren Zahl deutlich. Von der Sergiev-Kathedrale aus schlängelt sich eine vom Priester und den Diakonen der Kirche angeführte Prozession aus etwa 200 Leuten den Hügel hinab. Ein Chor singt Gebete. Ikonen, Kreuze und Fahnen werden vorneweg getragen. Ziel ist der unweit gelegene Fluss Belaja, der von einer dicken Eisschicht eingeschlossen ist. Nur an einer Stelle, direkt am Ufer, ist ein Loch in das Eis geschlagen. Es ist einer von 4 Plätzen in Ufa, an denen am heutigen Tag die sogenannte Große Wasserweihe stattfindet, eines der wichtigsten Ereignisse im orthodoxen Festkalender.

Entgegen der Kleinen Wasserweihe, die im Prinzip beliebig oft im Kirchenjahr vorgenommen werden kann, ist die Große Wasserweihe gebunden an den als „Taufe des Herren“ (Kreschene Gospodne) bezeichneten Festtag, der an die Taufe Jesu Christi durch den Propheten Johannes im Fluss Jordan erinnert. In der Russischen, wie auch in anderen Zweigen der Orthodoxen Kirche, wird dieser Feiertag im alten Stil, also nach julianischem Kalender begangen und fällt deshalb auf den 19. Januar des gregorianischen Kalenders.

Dieser Festtag besitzt im Russischen noch eine zweite Bezeichnung: Bogojavlenie – also die „Erscheinung des Herren“ oder Epiphanias, wie derselbe Feiertag auch in der lateinischen Kirche genannt wird (hier begangen am 6. Januar). Diese Bezeichnung verweist auf das weitere wesentliche Ereignis, welches die Taufe laut den biblischen Erzählungen auszeichnet. Demnach öffnete sich, nachdem Jesus bereits aus dem Wasser herausgestiegen war, der Himmel und der Heilige Geist stieg in Gestalt einer Taube auf die Erde hinab. Gleichzeitig war eine Stimme zu vernehmen, die Jesus als „geliebten Sohn“ bezeichnete. Dadurch ereignete sich die zweifache Offenbarung sowohl der Gottessohnesschaft Jesu, als auch der Allerheiligsten Dreifaltigkeit von Sohn, Vater und Heiligem Geist. Die Dreizahl spielt in den rituellen Handlungen des Festtages dementsprechend eine zentrale Rolle.

Die von der Sergiev-Kathedrale gestartete Prozession, die in Anlehnung an das biblische Geschehen auch als „Gang zum Jordan“ (Chod na Iordan) bezeichnet wird, ist mittlerweile an besagter Stelle am Flussufer angekommen. Es ist nicht unüblich, dass das Loch im Eis, der „Jordan“ im russischen Sprachgebrauch, in Form eines Kreuzes gestaltet ist. Hier jedoch wurde lediglich eine rechteckige Öffnung in den zugefrorenen Fluss geschlagen. Speziell ausgelegte Bretter sollen ein besseres Herantreten ermöglichen. Auf der zum Fluss hin gelegenen Seite der Öffnung ist ein kleines Pult errichtet, auf der gegenüberliegenden Uferseite ein orthodoxes Kreuz – beides geformt aus Eis.

Nachdem sich die Teilnehmer der Prozession hinter dem Kreuz versammelt haben, beginnen die Geistlichen mit der Zeremonie. Erneut Gesänge, Weihrauch wird über den Platz geschwenkt. Der Priester liest unter anderem Auszüge aus dem Buch des Propheten Jesaja, in dem die Ankunft des Herren auf der Erde verkündet wird, sowie die Beschreibung der Taufe Jesu aus dem Markusevangelium. Es folgen durch den Diakon litaneiartig vorgetragene Bittgebete: „Dass herabkomme auf dieses Wasser das reinigende Wirken der Dreieinigkeit, die über allem Sein ist, lasset zum Herrn uns beten!”, heißt es darin etwa. Gleichzeitig liest der Priester ein längeres Gebet, dessen zentrale Passagen, Anrufungen des Heiligen Geistes zur Heiligung des Wassers, jeweils dreimal wiederholt werden. Als Abschluss der Zeremonie taucht der Priester ein mitgeführtes Kreuz, dass bisher auf dem Pult gelegen hat, ebenfalls dreimal in das Wasser des „Jordans“ und besprengt damit die umstehenden Teilnehmer.

Aus irgendeinem Grunde – vielleicht liegt es ja an der den Umständen entsprechend surreal wirkenden Gleichsetzung der zugefrorenen Belaja mit dem Jordan – ist es gerade hier besonders beeindruckend zu beobachten, wie sehr Religion doch ganz wesentlich durch die Wiederholung von Ereignissen lebt, die sich sozusagen in einer ‚mythischen Urzeit‘ abgespielt haben. Das biblische Geschehen wird nicht einfach nur erinnert, es wird regelrecht vergegenwärtigt und an den Ort der Zeremonie transferiert. Durch die Handlungen der Beteiligten findet eine Erneuerung des Heilsgeschehens statt. So, wie durch die Taufe Jesu nicht nur das Wasser des Jordan, sondern alle Gewässer geheiligt wurden sind, so wird durch die Große Wasserweihe im orthodoxen Verständnis ebenfalls die Natur des Wassers geweiht und damit, das Wasser als Ursprung allen Seins betrachtend, die Schöpfung insgesamt.

Das während der Großen Wasserweihe gesegnete Wasser wird in der Orthodoxen Kirche wohl auch deshalb als großes Agiasma bezeichnet, als das „große Heiligtum“. Durch das Ritual der priesterlichen Weihe ist es zum „Ort der Anwesenheit Christi und des Heiligen Geistes“ geworden, hat auf diese Weise heilsame Eigenschaften erlangt und soll, so heißt es, weder verderben noch seine Heiligkeit verlieren. Auf dem Gelände der Sergiev-Kathedrale, in der nach der Zeremonie am Fluss ein Abschlussgottesdienst stattfand, hat sich aus diesem Grunde mittlerweile eine lange Schlange geduldig in der Kälte ausharrender Menschen gebildet. In einem Nebengebäude lassen sie sich heiliges Wasser in mitgebrachte Flaschen oder andere Behältnisse abfüllen, um es für ein Jahr oder länger auf Vorrat mit nach Hause zu nehmen. Auch direkt aus dem Eisloch im Fluss wird Wasser abgefüllt.

Mit dem Wasser segnen die Gläubigen ihre Häuser, Wohnungen und andere Dinge. Benutzt wird es aber auch als Heilmittel gegen seelische und körperliche Beschwerden. Entweder indem man kleine Schlucke davon auf leeren Magen trinkt, oder indem man es zum Waschen der kranken Person benutzt bzw. sein Bett damit besprengt. Aufbewahrt werden die Behältnisse mit dem Wasser in der sogenannten „roten Ecke“. Damit wird jener Ort eines Hauses oder der Wohnung bezeichnet, an dem die Ikonen aufgestellt sind – der heimische Altar. In der Kirche selbst findet das Wasser beispielsweise Verwendung bei der Weihe liturgischer Gegenstände, Ikonen oder dem Backen von Prosphoren (dem bei der Kommunion verwendetem Brot).

Der Glaube an die Heiligkeit des gesegneten Wassers und damit verbunden an dessen Fähigkeit, den Körper von Krankheiten und den Geist von Sünden zu reinigen, findet seinen besonderen Ausdruck zudem in einem weiteren Brauch, der an diesem Tag häufig im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit steht – dem rituellen Bad. In diesem Zusammenhang wird das Eisloch im Russischen auch als „Kupel“ (купель) bezeichnet, was eigentlich der Begriff für das Taufbecken ist. Dadurch wird gewissermaßen auch lexikalisch deutlich, welche grundlegende Idee hinter dem Untertauchen im Wasser steckt: das Reinwaschen der Seele von religiöser Schuld und die (Wieder)Eingliederung in die kirchliche Gemeinschaft.

Dass es sich bei diesem rituellen Bad vor allem um einen Volksbrauch handelt, wird die orthodoxe Kirche nicht müde zu betonen: „Bei jedem beliebigem kirchlichen Feiertag ist es unumgänglich seinen Sinn und sein Wesen zu unterscheiden von den um ihn herum entstandenen Traditionen.“ Vermutlich wurde das Baden im Fluss am Epiphaniastag von Jerusalem über Konstantinopel in die von dort aus christianisierte Kiever Rus eingeführt. Jedenfalls ist der Brauch schon sehr alt und ungeachtet der regelmäßigen Hinweise der orthodoxen Geistlichkeit, dass ein solches Bad allein „nicht von Sünden befreit“, so zieht dieser Teil des Feiertages doch scheinbar die weitaus meisten Leute an. Allein in dem Eisloch in der Belaja – wie gesagt, einem von insgesamt 4 in Ufa – haben, laut lokalen Presseberichten, an diesem Tag etwa 1000 Personen eine solche rituelle Waschung vollzogen.

Unter Beobachtung von Sanitätern steigen die Gläubigen in das Eisloch und tauchen dreimal unter, wobei sich nach jedem Auftauchen bekreuzigt wird, also auch insgesamt dreimal. Es sind vor allem Männer, die sich diesem Akt unterziehen, vereinzelt aber auch Frauen und Kinder, obwohl vor allem in Bezug auf Letztere im Vorfeld des Festtages Ärzte regelmäßig strikt davon abraten. In einem Zelt gibt es anschließend die Möglichkeit sich aufzuwärmen. Zudem wird für alle Anwesenden kostenlos heißer Tee ausgeschenkt.

Auch wenn nun der Brauch des Eisbadens in erster Linie mit der Idee einer rituellen Waschung verbunden ist, so kann wohl andererseits ebenso davon ausgegangen werden, dass nicht immer nur rein geistliche Gründe die ausschlaggebende Motivation dazu liefern. Als feste Tradition gehört es mitunter an diesem Tag ganz einfach dazu. Dabei ist zudem nicht selten die Meinung zu hören, dass es, weniger aus spirituellen denn aus gesundheitlichen Gründen, gut für Körper und Geist wäre, ein Bad im kalten Wasser zu nehmen. Mitunter wird dies dann direkt verbunden mit dem Gang in die Banja. Zum Teil finden außerdem andere eher “weltliche” Ereignisse statt. An einer der weiteren Badestellen in Ufa, im Park Jakutowa, wurde in einem etwas größerem Eisloch, dass mehr Ähnlichkeit mit einem Schwimmbecken hatte, ein Wettschwimmen veranstaltet – wobei unter den Teilnehmer dann wohl auch in erster Linie das Vergnügen im Vordergrund gestanden haben dürfte.


Matthias Kaufmann, Januar 2014