Der dünne junge Mann steigt stöhnend aus dem kreuzförmigen Loch im Eis. Auf die Frage, wie es ihm jetzt gehe, hebt er nur den steifen Daumen und bringt keuchend ein „bemerkenswert“ hervor. Dann wankt er über die zugefrorene Belaja zu seinen Sachen und versucht seinen vor Kälte starren Körper abzutrocknen und seine wärmende Kleidung wieder anzuziehen.

Und schon springt der nächste Wagemutige ins Eiswasser, nachdem er sich dreimal bekreuzigt hat. Er atmet einige Male tief ein und aus und taucht dann unter. Das sei wichtig, merkt Viktor an, der dünne junge Mann, der immer noch mit seinen Unterhosen kämpft. Man müsse den ganzen Kopf unter Wasser haben. Nur so könne man sich von seinen Sünden befreien, die man in den vergangenen Tagen begangen hat.

Die Buße ist an diesem Tag, dem 19. Januar, nur möglich, da alle Flüsse und Seen in Russland heilig sind. Schon am Vortag werden sie von Priestern gesegnet, die damit das alljährliche Epiphanias-Fest einleiten. Es ist eines der höchsten Feiertage in der russisch-orthodoxen Kirche und ist – wenn man sich nach dem weltlichen Kalender richtet – in Westeuropa besser als Tag der Heiligen Drei Könige bekannt. Ursprünglich wurde an diesem Tag die Geburt und die Taufe Christi gefeiert, weswegen er im Russischen immer noch „Krezh’enie“  (Taufe) genannt wird. Auch das neue Jahr begann vor Jahrhunderten erst nach diesem Tag.

Im Laufe der Zeit hat sich die Bedeutung des Festes jedoch gewandelt. Wichtiger Bestandteil dieses Tages ist trotzdem immer noch der Gang in die Kirche zur morgendlichen Messe. Auch in Ufa, dessen Bevölkerung überwiegend muslimisch ist, herrscht an diesem Freitag dichtes Gedränge in der kleinen orthodoxen Kirche am Monument der Freundschaft. Die sonst so feierliche Stimmung einer Messe geht am heutigen Tag zwar gänzlich unter. Dennoch harren die meisten bis zum Ende aus, um sich vom Priester symbolisch taufen zu lassen. Eine Prozedur, die daraus besteht, das Kreuz zu küssen, während das Gesicht mit einigen Spritzern des heiligen Wassers befeuchtet wird.

Danach heißt es für die meisten noch einmal anstehen, um ein paar Liter des begehrten gesegneten Wassers mit nach Hause nehmen zu können. Abgefüllt in Flaschen oder Kanister wird ihm wunderähnliche Heilkraft zugesprochen, weswegen viele Familien es das gesamte Jahr aufbewahren.

Auch Viktor war vor seinem Eisbad in der Kirche, hat sich dann aber nicht in die Schlange der auf heiliges Wasser Wartenden eingereiht, sondern ein Bad in eben diesem bevorzugt. So macht er es nun schon das vierte Jahr in Folge und sei noch nie krank geworden. Außerdem sei es ja dieses Jahr schon beinahe ein Akt für Weicheier, denn die -3°C am heutigen Freitag seien in Vergleich zum vergangenen Jahr ja schon fast Hitze.

Elisabeth Lehmann, Januar 2007