Meine Kollegin Katrin wundert sich über die Rollenverteilung in der russischen Gesellschaft. Wie kann es sein, dass die russischen Frauen alle Haushaltpflichten so gehorsam auf sich nehmen und dem Mann die beschaffende Rolle überlassen? Nun, es ist nicht weiter verwunderlich, weil die Deutschen in diesem Fall alles ohne Rücksicht auf „männliche“ oder „weibliche“ Pflichten aufteilen. Aber, worin liegt dann der Grund eines solchen Verhaltens? Versuchen wir, es etwas klarer zu machen.

Die deutsche Gesellschaft ist von Anfang an viel differenzierter. Die deutschen Jugendlichen verlassen ziemlich früh das Elternhaus. Wenn Studenten mit den Eltern wohnen, so ist es eher eine Ausnahme, als eine Regel. In Russland ist es jedoch umgekehrt. Eine wichtige Rolle spielt dabei die finanzielle Lage: Wenn deutsche Studenten nach dem Unterricht noch etwas arbeiten können, so können Russen davon nur träumen. Und diese „Tradition“ hat ziemlich tiefe Wurzeln.

Was ergibt sich dann daraus? Ein durchschnittlicher Deutscher hat sich daran gewöhnt, schon früh selbstständig zu leben. Er kann für sich selbst sorgen, hat sich sogar an solche eine einsame Lebensweise gewöhnt. Diese Gewohnheit bleibt auch später, im Familienleben, erhalten. Die Deutschen sind viel individualistischer, als die Russen. Die Redewendung „Die Familie ist eine Gesellschaftszelle“ konnte nur in Russland entstehen.

Ein typisches Beispiel: Einmal wurden wir, Freiwillige aus verschiedenen Ländern, mit einer eigenartigen Aufgabe konfrontiert. Sie ist lang, deswegen werde ich sie nicht im vollen Umfang wiedergeben, einen Punkt aber will ich erläutern. Also, die Tochter kommt zu ihrer Mutter und bittet um Rat in einer schweren moralischen Frage. Sie bekommt die Antwort: „Du bist schon achtzehn und erwachsen. Es sind deine Probleme, und Du solltest sie selbst lösen. Für die Mehrheit (genauer für alle außer mir) schien eine solche Antwort… nicht immer normal, aber mehr oder weniger gesetzmäßig. D.h., nach der Meinung nicht nur eines Deutschen, sondern eines durchschnittlichen jungen Europäers, hatte die Mutter Recht, so zu antworten. Die Logik unterstützt ihre Meinung, aber… Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Eltern oder die Eltern von einem meiner Freunde solch eine Antwort geben würden. Darüber hinaus könnte ich nie eine solche Familie, wo solches Verhalten herrscht, normal nennen. Ja, ich bin menschenscheu, und mein Land ist auch wild, aber…

Der individualistische Geist ist in Deutschland überall zu spüren: Die getrennten Rechnungen in Cafés und Restaurants. Sogar die Werbung hier ist auf das „Ich“ ausgerichtet. Das, was für DICH gut ist, ist auch für deine Umgebung, für die Gesellschaft gut. Wahrscheinlich ist was dran an diesem „vernünftigen Egoismus“. In Russland aber kann es nicht funktionieren. Vielleicht jetzt noch nicht…

Ich will damit nicht sagen: So ist es gut und so – schlecht. Es ist nur ein Unterschied, aber er ist für das Verstehen der Mentalitäten unserer Völker von großer Bedeutung.

Und zum Schluss: In dem schon erwähnten Artikel erzählt Katrin über die russischen Männer. Das sieht sehr komisch aus: Einerseits bin ich so emanzipiert und feministisch, so unabhängig, aber andererseits, wie angenehm kann es sein, wenn man dir die Tür aufhält, in bzw. aus dem Mantel hilft, die Hand reicht, Taschen trägt… All das ist natürlich Ausbeutung mit allem drum und dran, aber es ist doch so teuflisch angenehm! So ein Widerspruch! :))

D. Mukhametkulov, A. Vasiliev, 24.09.06