Alia Kuvatova ist eine junge und begabte Modedesignerin. Wir haben sie bei der Präsentation ihrer Kollektion «Bollywood» kennengelernt und wurden sehr überrascht, wie sich die Geschichte und Kultur der Partnerstädte Ufa und Halle im Schicksal und Schaffen eines Menschen einprägen können.
Seitdem ist nur wenig Zeit vergangen, aber Alia arbeitet schon an einem neuen Projekt. In ihrem Kopf drängen sich tausende Ideen und jedes neue Wort kann zum Anlass von etwas Genialem werden. Und jetzt wird es «Das gute Stück»!

Alia Kuwatowa: Wir bereiten eine Männerkollektion vor, ein klassischer Mantel wird zur Grundlage. Es ist ein Kleidungsstück, das man wirklich für eine der Hauptsachen in jeder Garderobe hält und von Generation zu Generation weitergibt. Und die Geschichte einer Sache kann in irgendwelchen Ornamenten, Stoffstrukturen und Kleidungsteilen widergespiegelt sein. Immerhin ist die nationale Tracht so einzigartig und schick, dass man sie unbedingt auf dem Podium zeigen soll, um sie für unsere Kinder aufzubewahren. Ich sammle nun Informationen über die baschkirische Tracht. Und, ehrlich gesagt, mit Hängen und Würgen. Es stellte sich heraus, dass wir keine Bücher und sogar keine Broschüren zu diesem Thema haben. In Ufa konnte man mir maximal die Werbekataloge eines Ateliers und die Ausstellung der nationalen Anzüge im Heimatkundemuseum anbieten. Und für meine Arbeit braucht man viel mehr Information: die Geschichte, die Bedeutung dieser oder jener Ornamente oder einer Farbe und Fassons. Meine Kollegin im Projekt und ehemalige Kommilitonin Cornelia Ohlendorf kann hingegen das Buch von der Geschichte der deutschen Nationaltracht aufmachen und dort alles finden. Sie verwundert sich übrigens darüber, dass es bei uns keine solche Bücher gibt.

Baschkirienheute: Was löste solch ein Interesse an einer unverwechselbaren Volkskultur aus?

Alia Kuwatowa: Während meines Praktikums in London hat man mich einmal nach der nationalen baschkirischen Tracht gefragt. Natürlich erinnerte ich mich an unsere Mütze, gestickte Lederstiefel … Aber es durchzuckte mich, dass ich fast nichts von der Geschichte des Anzugs wußte. Und konnte unsere Kleidungstraditionen überhaupt nicht rühmen. Seit dieser Zeit suche ich nach den Wegen der Popularisierung der Volkstrachten. Schließlich trug man sie nicht umsonst jahrhundertelang.

Baschkirienheute: Es ist sehr interessant, was für Ergebnisse Sie bekommen! Wann planen Sie mit dieser Arbeit fertig zu sein?

Alia Kuwatowa: Das interessiert mich auch, denn das Projekt existiert bisher nur auf dem Niveau der Idee. Wir denken gründlich darüber nach, was wir machen und wie wir es machen. Wir wählen den Stoff aus. Aber wir richten uns auf Ende. April aus. Zu dieser Zeit muss bei uns alles fertig sein: die Kunststiftung Sachsen-Anhalt will mit unserer Modenschau ihr neues Haus eröffnen.

Baschkirienheute: Bedeutet es, dass das Komplizierteste noch kommt?

Alia Kuwatowa: Das Schwerste ist eine Idee zu finden. Wir haben schon sowohl sie als auch den Zuschuss für ihre Realisierung. Jetzt ist alles im besten Gange. „Am Anfang war das Wort…!“ Und aller Anfang ist schwer, es ist kompliziert dieses Wort zu finden. Deshalb krallt man sich im Gespräch um jeden interessanten Gedanken. Ein Wort gibt ein anderes. Die Idee vom Bollywood ist mir, zum Beispiel, gerade so eingefallen. Meine Freunde erzählten stolz von ihrer Sammlung der indischen Filme, mein Mann und ich sahen sie uns an. Das Sujet ließ sich später ganz von selbst erfinden. Das ist interessant, dass «das indische Kino» als ein kulturelles Phänomen mit der Zeit immer populärer wurde. Es war Zeitgeist, glaube ich. Und er schwebte in der Luft.

Baschkirienheute: Und welcher Teil Ihres Schaffens begeistert Sie am meisten?

Alia Kuwatowa: Ich weiß nicht, wahrscheinlich der Prozess selbst. Das ist ein Wunder! Zuerst gab es nichts, später erschien das Wort. Es wurde dann zu den Ideen und Gestalten. Und plötzlich hat man eine ganze fertige Kollektion vor sich. Da du die ersten Muster selbst machst, genießt du unbeschränkt jede Naht. Das Schaffen ist der Moment, der „Hier und Jetzt» heißt. Alles hängt davon ab, wie man seine Gestalt in dieser Minute deutet. Ein Schritt nach links und ein Schritt nach rechts nennt man hier Kreativität, es gibt keine Kontrolle. Ja, man kann sich mit jemandem in einer beliebigen Etappe beraten lassen, aber was du machst, spiegelt dich persönlich wider. Deshalb gönnt man sich keine Entspannung, stülpt seine Seele nach außen… Und es ist später erstaunlich, wie stark das Ergebnis deiner Arbeit der Idee nicht ähnlich ist oder dem ersten Einfall nicht entspricht. Auf jeden Fall, der ganze Prozess — vom Anfang und bis zum Ende — ist ein Wunder!

Baschkirienheute: Und wie viel solche Wunder haben Sie schon gemacht?

Alia Kuwatowa: Während des Studiums machten wir regelmäßig Sammlungen, die aus fünf oder sechs Modellen bestanden. Jedesmal bekamen wir ein neues Thema — eins für alle und wir arbeiteten in diesen Rahmen. Zum Beispiel „Schwarz und Weiß“, „Schottisch kariert“, „die Diva auf der Titanic“, „Hippodrom„ und andere. Ich habe zwei große Kollektionen: „Eskimo“ (wegen der Muster hat die Jugend sie „ Doktor House“ benannt) und noch „Bollywood“. Und jetzt bereiten wir „Das gute Stück“ vor.

Baschkirienheute: Und wird es wiederum eine kreative Zusammenarbeit?

Alia Kuwatowa: Für mich ist das Designertandem in der Arbeit ein großes Experiment. Und für Cornelia ist es auch zum ersten Mal. Wenn ich vorher mit jemandem zusammen arbeitete, hatte jeder seine eigenen Pflichten. Und jetzt schmoren wir im eigenen Saft und denken an dieselben Probleme. Aber im Erfolgsfall denken wir wohl darüber nach, ein eigenes Label zu machen.

Baschkirienheute: Was inspiriert Sie?

Alia Kuwatowa: Eine Reise ist eine gute Quelle der Begeisterung. Es lohnt sich einfach von der Alltäglichkeit weg zu gehen und in ein anderes Leben, eine andere Kultur einzutauchen. Ab und zu sitze ich in irgendeiner Stadt in einem Café und „meine“ Kollektion geht vorbei. Die Engländer, zum Beispiel, mischen Kleidungsstücke sehr gern, sie benutzen keine fertigen Kombinationen. Aber so macht man es in Paris seltener. Man hängt alle Kleider von der Schaufensterpuppe ab. Das sieht natürlich schick aus, aber das sind doch fremde Ideen: jemand hat es schon erdacht, jemand hat es schon vorgeführt… Ich bin noch nie in Italien gewesen Es hat mir in Spanien und Portugal gefallen und ich möchte gern nach Japan fahren. Sie schaffen dort etwas unvorstellbares! Und es gibt Eigenständigkeit und Originalität in ihrer Garderobe. Es ist schade, dass die Russen so etwas kaum können. Die Mehrheit will in Russland ähnlich sein: ebensolche Uhren, Mäntel, Schuhe. Obwohl dieselbe Kombination der Kleidung derselben Marken nicht denselben Erfolg bringen muss oder guten Geschmack gewährt. Dein Aussehen ist deine Persönlichkeit.
Und die Kollektion des Designers ist sein persönliches Thema, seine Seele und seine Kultur. Man muss sich lange selbst analysieren, bevor man etwas Interessantes herausfindet. Und ich versuche in erster Linie, sich vom Leben und der Kultur zu abstrahieren, alles detailiert zu erlernen und dann wiederum zu systematisieren, aber alles schon objektiv zu akzeptieren, um über alle Vor- und Nachteile Bescheid zu wissen. Doch es gibt auch solche Besonderheiten, die man nicht loswerden will. Einige Klischees will man sogar bewahren. Warum denn nicht, wenn sie so charmant sind?!

Baschkirienheute: Alia, was fühlen Sie, wenn die ganze Arbeit schon vorbei ist, die Models auf dem Podium stehen und bald Ihr Auftritt ist?

Alia Kuwatowa: Ich erinnere mich an keine Emotionen und keine Gedanken. Im Kopf drängen sich gewöhnlich nur Kleinigkeiten. Aber nichts davon spielt in diesem Moment eine Rolle. Ich weiß, dass ich hundertprozentig gearbeitet habe und anders konnte ich einfach nicht! Und das stellt mich zufrieden! Absolute Katharsis… Ehrlich gesagt, gehe ich in diesem Moment nicht gern auf das Podium raus. Mein größter Wunsch ist, im Zuschauerraum zu sitzen. Die ganze Handlung von da zu sehen ist für den Designer ganz ungewöhnlich. So war es nur einmal, als ich in Halle meine Diplomarbeit vorstellte. Und nie mehr.

Baschkirienheute: Das bedeutet, Ihre Ausbildung haben Sie nicht nur in Ufa, sondern auch in Halle bekommen?

Alia Kuwatowa: Ja. Nach der Schule kam ich nach Ufa um auf die biologische Fakultät zu gehen, weil meine Mutter auch Biologin war. Aber ich habe zu den Studienbewerbern gehört, die unbedingt jemanden retten, etwas erfinden und studieren wollten und ich habe verstanden, dass meine Motivation ungenügend ist. Und die Tante empfahl, auf die technologische Hochschule zu gehen. Und ich folgte dem Rat. Im Technologischen Serviceinstitut Ufa der Staatlichen Akademie für Konsum- und Dienstleistungen förderte man mein Talent für Modedesign. Damals gab es nur Wahlunterricht, jetzt ist es schon ein Fachbereich. Doch es hat mir viel gegeben.
Ich studierte gut und wollte dann sogar in der Wissenschaft bleiben. Ich bestand sogar die Kandidatenprüfungen und fand eine Promotionsstelle bei Professoren in Moskau. Aber mein Mann bekam plötzlich eine Arbeitsstelle in Halle und so musste meine wissenschaftliche Tätigkeit aufhören.
Als ich hier Deutsch lernte, interessierte ich mich für Philologie. Ich hatte schon alle Dokumente für die Bewerbung an der Sprachfakultät vorbereitet, als jemand mir von der halleschen Burg Giebichenstein, der Hochschule für Kunst und Design, erzählte. Aus purer Neugierde brachte ich meine Arbeiten aus Ufa dorthin mit und wurde eingeschrieben. Als es sich später herausstellte, gefiel ich meinen Lektoren sehr, die die Studenten sehr anspruchsvoll auswählten: sie bildeten eine kreative Familie. Die Atmosphäre war wirklich sehr gut, vertraulich, obwohl es nicht ohne Konkurrenz ablief. Ich arbeitete in verschiedenen Gruppen und habe viele Menschen kennengelernt. Mit einigen von ihnen bin ich noch befreundet oder arbeite mit ihnen zusammen.

Baschkirienheute: Bedeutet das, dass Sie schon Ihre endgültige Berufung gefunden haben? Und gibt es in dieser Industrie Menschen, die Sie für Lehrer halten; Designer, nach deren Schaffen Sie sich ausrichten?

Alia Kuwatowa: Jedes neue Thema öffnet für mich neue Namen. Früher gefielen mir Japaner in Paris. Mir gefallen auch Vivienne Westwood und Lagerfeld, nicht nur wegen dem, was sie machen, sondern WIE sie es machen! Viktor &Rolf und viele andere…

Baschkirienheute: Wovon träumen Sie?

Alia Kuwatowa: Im Kopf gibt es viele Ideen, ich möchte Kinderkleidung machen. Ich habe eine Tochter und es ist sehr interessant ihre Einstellung zur Kleidung zu beobachten, was und in welcher Farben sie wählt. Es stellt sich heraus, dass die Kinder keine Kleidung in schwarzen und braunen Farben mögen! Man kann gerade mit diesen unbeliebten Farben experimentieren. Allerdings meinte ich immer, dass es unehrlich ist, eine Kinderkollektion anzufertigen – ob gut oder schlecht, sie kommt immer gut an. Die Kinderkleidung ist immer wirtschaftlich nachgefragt, und die Kollektion auf dem Podium wird nicht so kritisiert. Sehen wir mal. Man hat mich darum gebeten, mir etwas für korpulente Damen auszudenken. Ein Sonderthema ist Jugend! Aber jetzt bin ich ganz auf die Männerkollektion konzentriert. Hoffentlich finden wir etwas Gutes dafür!

Julia Baydzhanova, Sofya Kovalenko, August 2010