Der 9. Mai – Tag des Sieges – ist für viele Russen der wichtigste Feiertag im Jahr. An diesem Tag gedenkt das ganze Land des Sieges über Nazi-Deutschland im Großen Vaterländischen Krieg. In Moskau veranstaltet man neben unzähligen Gedenkfeiern, Musik- und Tanzaufführungen eine riesige Militärparade. Ein Spektakel,  das Tausende von Menschen live und Millionen von Menschen an den Fernsehbildschirmen verfolgen.

Die Twerskaja-Straße ist zu beiden Seiten so mit Menschen überfüllt, dass kaum an ein Durchkommen zu denken ist. Doch unser Treffpunkt ist nur noch 200 Meter weit entfernt, an Aufgeben ist jetzt nicht zu denken. Es ist 10 Uhr am Morgen des 9. Mai in Moskau und ich habe vor, mir die weltberühmte Militärparade anzusehen. Da ich als Ortsfremder keine Ahnung von geeigneten Orten hatte, habe ich mich am Tag vorher mit der „Eingeborenen“ Julia verabredet. Sie war offensichtlich nicht die einzige Moskauerin, die die Idee hatte, es in der Nähe des Majakowskaja-Platzes zu versuchen.

Nach weiteren 15 Minuten des mehr oder weniger aggressiven Durchkämpfens komme ich am vereinbarten Treffpunkt an. Gemeinsam mit Julija und ihrem Bekannten suchen wir nach einer geeigneten Lücke in der Menschenkette, die sich am Straßenrand gebildet hat. Schließlich entscheiden wir uns für Stehplätze in der vierten Reihe. Kurz darauf geht ein erstes Raunen durch die Menge, die Menschen aus südlicher Richtung johlen und pfeifen. Falscher Alarm – es ist nur ein langweiliges Kehrfahrzeug, das die Straße ein letztes Mal abfährt.

Doch gleich geht das Klatschen wieder los, dabei ist weit und breit auf der Straße nichts zu sehen. Kein Wunder, die Hälse der Menschen recken sich in Richtung Himmel. Ein russischer Militärflieger fliegt über der Stadt hinweg. Von unserer Position aus ist er zwischen den Häuserschluchten nur kurz zu sehen, doch die Menge ist begeistert. Denn es geht gleich weiter mit Bombern und Düsenjets. Die Flugzeuge fliegen so tief, dass man glauben könnte, sie würden jeden Moment die Fernsehantennen auf den Dächern streifen. Abgeschlossen wird die Flugschau durch drei in Dreiecksformation fliegende Düsenjets, deren Kondensstreifen die drei Nationalfarben Russlands haben. Erneut Begeisterungsstürme.

Auf einmal vernehme ich deutsche Männerstimmen gleich neben mir. Auf Nachfrage geben sie sich als Vater und Sohn zu erkennen. Zwei Hobby-Militärexperten, die regelmäßig zum 9. Mai nach Moskau reisen, um der Parade beizuwohnen. Sie sehen genauso begeistert aus wie die umstehenden Russen. Plötzlich fängt die Erde an zu beben. Ursache dafür sind die sich nähernden Panzer. Unzählige Panzer. Gefolgt von Militärtransportern, Raketenträgern und vielen vielen anderen Militärfahrzeugen. Die ganze Parade dauert ungefähr 15 Minuten und wird begleitet von den Jubelstürmen der umstehenden Zuschauer.

Da drängt sich mir die Frage auf, ob man hier den Sieg Russlands feiert oder ob der Tag lediglich Anlass ist, mit eigener militärischer Stärke zu protzen? Fakt ist, dass die Militärparade in heutiger Form erst seit 2005 wieder stattfindet. Anfang der 90er beschloss man, sie als Relikt aus Sowjetzeiten nicht mehr stattfinden zu lassen. Unter Putin wurde sie dann zum 65. Jahrestag wieder eingeführt. Dabei gibt es auch viele Gegenstimmen, die Putin vorwerfen, er wolle mit seinen Paraden das Großmachtstreben Russlands unterstreichen. Die sowjetischen Symbole wurden weitgehend ersetzt. Als Zeichen der Anteilnahme für das Kriegsende und Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg hat sich das Sankt-Georgs-Band, ursprünglich eine Auszeichnung aus zaristischen Zeiten, eingebürgert. Es wird entweder an der Kleidung getragen oder als Wimpel an Autoradioantennen angebracht. Das erinnert an Autofahnen in Deutschland während Welt- und Europameisterschaften im Fußball.

Viele Russen haben heute das Gefühl, dass die historischen Leistungen ihrer Nation nicht ausreichend anerkannt werden. Einmal fragte mich eine russische Bekannte, wer denn meiner Ansicht nach den Krieg gewonnen habe. Sie war dann ganz erstaunt, als ich sagte es seien vor allem Großbritannien, die USA und Russland gemeinsam gewesen. Dabei hätten ihrer Meinung nach die Amerikaner doch erst im Sommer 1944 aktiv in den Krieg eingegriffen. Alliierte Rohstofflieferungen über Murmansk wären nicht so bedeutend gewesen. Offenbar sehen Russen die Leistungen ihres Landes im Ausland nicht ausreichend gewürdigt. Ein in Russland lebender Italiener sagte mir, dass man sich davor hüten sollte, mit Russen über Geschichte zu diskutieren. Für eine objektive Diskussion seien sie viel zu patriotisch.

Natürlich darf man nicht vergessen, dass kein Land so sehr unter den Nazi-Schergen gelitten hat wie Russland. 27 Millionen Russen sind im Zweiten Weltkrieg umgekommen. In Russland wird der Zweite Weltkrieg der Große Vaterländische Krieg genannt, in Anlehnung an den ähnlich heroischen Vaterländischen Krieg gegen Napoleon im Jahre 1812. Begonnen hat der Krieg laut russischer Geschichtsschreibung im Juni 1941 mit dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion. Das offizielle Ende ist der 9. Mai 1945, der Tag des Sieges.

Wieso eigentlich der 9. Mai? In deutschen Geschichtsbüchern wird doch gelehrt, dass die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai unterzeichnet wurde. Das stimmt soweit auch, nur wurde die letzte Unterschrift gegen Mitternacht auf das Dokument gesetzt, als in Moskau wegen der unterschiedlichen Zeitzonen schon der 9. Mai begonnen hatte. Deswegen wird bis heute im gesamten Bereich der ehemaligen sowjetischen Einflusssphäre der 9. Mai als Ende des Krieges gefeiert.

Nach der Militärparade mache ich mich auf den Weg in Richtung Roter Platz. Vor dem Bolschoi-Theater versammelt sich eine riesige Menschenmenge, wo traditionelle russische Lieder gesungen und Tänze aufgeführt werden. Die Überlebenden des Krieges gegen Nazi-Deutschland erhalten Blumen und kleine Geschenke von jüngeren Generationen. Am Ende des Tages haben die meisten dann einen riesigen Blumenstrauß in der Hand. Die Veteranen erzählen den jüngeren Generationen Geschichten aus den schrecklichen Zeiten. Doch zugleich wird auch getanzt und gefeiert, denn es ist ja der Tag des Sieges.

Den festlichen Abschluss des Tages bildet ein Feuerwerk gegen 22 Uhr, das von acht verschiedenen Stellen in der ganzen Stadt verteilt gestartet wurde. Alles in allem ein sehr erlebnisreicher Tag. Etwas verstörend war der Anblick von Menschen in Uniformen mit Sowjetfahnen und einem riesigen Gemälde Stalins, das durch die Straßen Moskaus getragen wurde. Und auch die Begeisterung der Massen für das Militär konnte ich nicht nachvollziehen. Da bin ich aber nicht der einzige – Julia, meine Stadtführerin, ist überzeugte Pazifistin. Ich bin jedenfalls froh, dass es Militärparaden dieser Art in Deutschland nicht gibt.

David Witkowski, Mai 2013