Erst kürzlich wurde mir ein Mal mehr der Unterschied zwischen deutscher und russischer Art in der Abwicklung offizieller Angelegenheiten bewusst. Der Anlass war ein Besuch unseres Vermieters, der sich über den Stand der Dinge in seiner Wohnung informieren wollte.

Zuerst sei gesagt, dass die Handhabung der Mietzahlung sehr unbürokratisch abläuft: Ein Mal im Monat wird die Miete von meiner Mitbewohnerin persönlich und in bar im Haus des Wohnungsbesitzer abgegeben. Auf diese Weise gibt es keinen Mietvertrag und es ergeben sich keinerlei steuerliche Verpflichtungen für den Vermieter; was dadurch jedem, der freien Wohnraum besitzt, die Möglichkeit gibt unkompliziert eine Wohnung zu vermieten und somit steuerfrei zusätzliche Einnahmen zu kassieren.

Auf der anderen Seite bedeutet dies für den Mieter keinerlei rechtliche Absicherung. So kann es passieren dass einem neben willkürlichen Mieterhöhungen auch andere Unannehmlichkeiten widerfahren, wie dies z.B. einem Bekannten meiner Mitbewohnerin ergangen ist. Dieser wurde, gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt, gebeten unverzüglich seinen Vermieter anzurufen. Was er auch tat. Ihm wurde daraufhin mitgeteilt, dass seine Wohnung in den folgenden 2 Monaten für Verwandte des Vermieters gebraucht würde, weshalb er sie für diesen Zeitraum freigeben müsse. Nach der anberaumten Zeit sollte er aber wieder in seine „eigenen“ vier Wände zurückkehren können.

Jedoch wurde die Wohnung auch nach diesen 2 Monaten anderweitig gebraucht und der Bekannte meiner Mitbewohnerin erhielt die Nachricht, dass er nicht weiter dort wohnen könne. Er musste wieder bei seinen Eltern einziehen. Mit diesem Vorwissen zitterten auch wir vor dem angekündigten Besuch unseres Vermieters. Letztendlich war ja nicht auszuschließen, dass er vorhatte demnächst eine Wohnung in Stadtlage zu beziehen und wir deshalb sofort ausziehen müssten. Es stellte sich jedoch heraus, dass er nur beabsichtigt eine seiner 2 Wohnungen zu verkaufen. Die Entscheidung darüber, welcher er abgeben würde, werde er uns dann im Voraus mitteilen. Na da haben wir aber noch ein Mal Glück gehabt! Wir dürfen also für eine unbestimmte Zeit weiter hier wohnen und hoffen…

Diese beschriebene kommerzielle Freiheit fiel mir bereits im Frühling auf, als ich anfing hier einer Kampfkunstart namens Uschu nachzugehen. Da ich bereits in Deutschland in einigen Sportvereinen Mitglied gewesen war, kenne ich die notwendigen, bürokratischen Modalitäten wie Vertrag, Mitglieds- und extra Vereinsgebühren, mit denen bei uns eine Vereinsmitgliedschaft verbunden ist. Es verwunderte mich deshalb beim Uschu nichts dergleichen anzutreffen. Ich konnte mich entscheiden entweder jede Trainingsstunde einzeln am Tag des Erscheinens oder aber im Voraus für den ganzen Monat zu bezahlen. Um die Finanzen zu überprüfen wurde auf einem Klemmbrett eine Liste mit Namen und Datum geführt.

Diese, für mich überraschende, Unkompliziertheit zeigt sich auch in Gesprächen mit Russen, die mit Unbeschwertheit, gleichzeitig aber auch überzeugter Aufrichtigkeit davon träumen ihr eigenes „Business“ zu eröffnen – ganz gleich, ob sie nun Wirtschaft und Finanzen oder Tourismus studiert haben. Oder auch, wenn eine Freundin, welche kaum deutsch spricht und davon träumt in Deutschland ihre Dissertation zu schreiben, mich fragt, ob sie für die 3 Monate, die sie in Deutschland verbringen würde, sich durch Russischunterricht an der Uni ein Zubrot verdienen könne. Wobei ferner noch nicht ein Mal geklärt ist, ob ihr Antrag überhaupt angenommen wird.

Ich könnte noch mehrere solcher Beispiele nennen und sie alle belegen das gleiche: Nicht nur die USA sind das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, auch in Russland eröffnet sich den Bürgern ein breites Spektrum an kommerziellen Verdienstmöglichkeiten, welche in Deutschland vielleicht sogar schon als Schwarzmarkt gelten würden. Wobei trotzdem die russische Bürokratie nicht zu unterschätzen ist. Auch hier gibt es ‚konventionelle’ Sportvereine, die an Satzungen gebunden und rechtlich abgesichert sind. Und auch hier wird nicht jede Wohnung unter der Hand vergeben!

Aber es ist eben auch auf eine solch unbürokratische Art möglich und der Modus ist nicht selten. Vielleicht lässt sich dieses Lebensgefühl am besten in den Worten eines Bekannten zusammenfassen, der ein Mal zu mir sagte: Ein Leben in Deutschland würde ihn zu Tode langweilen – jeden Tag die gleiche Schablone und keine Spontaneität. Was das Leben interessant macht, ist doch aber eben, dass man nie weiß, was kommt. Vielleicht hat er ja Recht?

Ulrike Geier, Oktober 2008