Das Ende des Zweiten Weltkrieges hat sich tief in das kollektive Gedächtnis der russischen Gesellschaft eingebrannt. Der „Tag des Sieges“ gilt als größter und wichtigster nationaler Feiertag. Zu Recht erinnert man an die enormen Opfer, die im Kampf gegen den Faschismus gebracht wurden sind. Gleichzeitig ist der Tag jedoch wie kaum ein anderer Mittel der politischen Instrumentalisierung. Daneben zeigt er sich aber auch einfach nur als Feiertag im wortwörtlichen Sinn. Einige lose und widersprüchliche Eindrücke vom 9. Mai.

Wir sitzen zu dritt in der Küche der Großmutter eines guten Freundes. Es ist bereits früher Abend. Sie schenkt uns Selbstgebrannten in unsere Schnapsgläser ein. Anstoßen zum Feiertag. „Auf den Frieden“, toastet sie uns zu. „Auf den Frieden“, wiederholen wir und leeren unsere Gläser. „Soviel haben wir durchgemacht“, ihre Augen blicken gedankenverloren in den Raum, während sie spricht, Blicke scheinbar in eine vergangene Zeit. Sehen Dinge, die man sich wohl kaum vorstellen kann. „Der Krieg, der Hunger, die Kälte. So viele sind gestorben. Was waren das nur für Zeiten. Wir haben das alles durchlebt. Ihr seid noch jung, möge euch so etwas erspart bleiben.“ Erneut schenkt sie nach, erneut toastet sie uns zu „auf den Frieden.“

Zuvor, am Nachmittag, Spaziergang durch die Stadt, dorthin, wo sich heute viel Volk versammelt. Festtagsstimmung am Leninplatz. Auf einer großen Bühne treten verschiedene Musiker und Ensembles auf. Baschkirische Folkloregruppen und Tanzgruppen junger Mädchen zu poppigen Technobeats. Ein neben der Bühne aufgestellter Bildschirm zeigt Szenen aus dem Zweiten Weltkrieg, Bombenabwürfe und zerstörte Städte. Wenige Meter weiter können die Kinder Ponyreiten. Oder auf Militärfahrzeugen rumklettern. Im angrenzenden Vergnügungspark herrscht Hochbetrieb, lange Schlangen haben sich vor den Achterbahnen gebildet.

Im Siegespark angekommen, bauen die Aktivisten der Nationalen Befreiungsbewegung gerade ihre Bühne ab. Die Propaganda-Stunde der Ultranationalisten haben wir zum Glück verpasst, denke ich mir im Stillen. Die Hetze gegen den angeblich von EU und USA finanzierten Neo-Faschismus in der Ukraine und der Aufruf, sich angesichts dessen der historischen Pflicht Russlands zur Abwehr der Nazis bewusst zu sein. Wir gehen weiter in den Park hinein. Am ewigen Feuer werden Blumen und gestickte Plakate mit den Namen der bereits verstorbenen Veteranen niedergelegt. Stilles Gedenken. Ansonsten erfreuen sich auch hier die herumstehenden Panzer größter Beliebtheit. Kinder in Uniformen der Roten Armee laufen freudestrahlend an mir vorbei. Die Glorifizierung des Krieges als Erlebnis für die ganze Familie.

Zurück in die Küche der Großmutter eines guten Freundes: „Zu neunt haben wir in einer Einraumwohnung gelebt, ich und meine Mutter und andere. Der Vater war im Krieg. Wenn man abends in der Küche kochen wollte musste man warten. Wenn man als letzter an der Reihe war, war es bereits Mitternacht. Und es gab doch wieder nur Kartoffeln.“

Wenig später sitzen wir im Wohnzimmer auf der Couch. Der Fernseher läuft. Gezeigt wird die Zusammenfassung der Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau. Soldaten marschieren, Panzer rollen, Kampfflugzeuge zeichnen die russische Trikolore in den Himmel. Eine Demonstration militärischer Macht an einem Tag, der eigentlich den Frieden feiert. Wenig später gibt es Bilder aus Sewastopol auf der Krim, in der Präsident Putin ebenfalls eine Militärparade abnimmt. Bloße Machtpolitik an einem Tag des Gedenkens. Und in Mariupol sterben an diesem Tag über 20 Menschen bei Zusammenstößen von ukrainischen Sicherheitskräften und pro-russischen Aktivisten. Mitten in Europa, 69 Jahre nach dem Krieg.

„Damals hatten wir nichts und es gab nichts“, hallen die noch in der Küche gesprochenen Worte der Großmutter in mir nach. „Heute bekommt man in den Geschäften alles was man braucht. Nur in Frieden leben lassen sie uns noch immer nicht.“

Matthias Kaufmann, Mai 2014