Tränenreiche Verabschiedung auf dem Bahnhof von Ufa, der Hauptstadt Baschkortostans im Südural. Etwa 40 russische und deutsche junge Leute liegen sich in den Armen, machen einander Geschenke, tauschen Fotos und Adressen aus, lassen Sekt und Wodka fließen… Diese Abschiedsszene findet erst ihr Ende, als der Zug Richtung Moskau, mit dem die Deutschen ihre Heimreise antreten wollen, schon anfährt – wie schön, dass man in Russland noch in einen rollenden Waggon einsteigen kann…

Mehr als sechs Wochen gemeinsamer Zeit mit baschkirischen Freunden liegen hinter uns, zwei in Halle und vier in Russland. Genug Zeit, um miteinander vertraut zu werden – menschlich, kulturell, sprachlich; genug Zeit, um auf gemeinsame Erinnerungen zu blicken und ein Wiedersehen zu versprechen.

Der Jugendaustausch fand in dieser Form – getragen vom Friedenskreis Halle e. V. – zum zweiten Mal statt. Entstanden ist er aus den Kontakten des Studentensommers, welcher als Initiative „von unten“ nach der Wende vom Studentenrat der Uni Halle aufrechterhalten wurde.

Mitte Juli trafen die fünfzehn Jugendlichen aus Ufa nach mehr als vier Tagen Zugreise in Halle ein. 12 Tage lang hatten sie Gelegenheit, die Stadt und ihre Sehenswürdigkeiten kennen zu lernen – vom Händelhaus bis zur Burg Giebichenstein; 12 Tage lang lebten sie ein Stück hallesches Jugend- und Studentenleben mit: vom WG-Frühstück und Mensa-Mittagessen bis zu Abenden im Spielehaus und in einschlägigen Kneipen.

Auch Ausflüge nach Wittenberg, Quedlinburg, Wörlitz und Dresden standen auf dem Programm. Ein ganz besonderer Leckerbissen war für die meisten eine Weinverkostung im Unstruttal, bei der der Zusammenklang von deutschem Wein und russischen Liedern den besonderen Reiz ausmachte…

Zum offiziellen Teil des Programms zählte auch ein Gesprächsabend im Friedenskreis Halle e.V., wo es u. a. um das Thema Wehrdienstverweigerung – in Russland und in Deutschland – ging, sowie ein Empfang bei der Bürgermeisterin der Stadt Halle, Frau Szabados.

Angenehm überrascht waren wir vom „Erlebnishunger“ unserer Gäste, insbesondere von ihrem kulturellen Interesse. Dazu ist wichtig zu wissen, dass ein solcher Jugendaustausch für viele in Russland – angesichts finanzieller und bürokratischer Hürden – eine einmalige Möglichkeit darstellt, dass westliche Ausland kennen zu lernen. Engagement im Studium und/oder Beziehungen spielen u.a. eine Rolle, wenn von russischer Seite her entschieden wird, wer mit nach Deutschland darf… Was Wunder also, dass sie ihre Chance auch nutzen und möglichst viele Erlebnisse und Erfahrungen nach Hause tragen wollen.

Auch wir Hallenser wurden in den zwei Wochen beschenkt: mit der Begeisterung und Herzenswärme unserer Gäste, mit Gesprächen und Begegnungen, mit russischen Liedern… – und mit einem „anderen“ Blick auf uns und unser Land.

Die zweite und sicher für uns spannendste Etappe des Austausches war unser vierwöchiger Gegenbesuch in Russland, an dem zwölf Deutsche teilnahmen.

Baschkirien – offiziell: Republik Baschkortostan – liegt im südlichen Uralgebiet und zählt aufgrund seiner Erdölvorkommen zu den wohlhabenderen Republiken Russlands. Fast ein Viertel der Einwohner sind allerdings nicht russischer, sondern baschkirischer und tatarischer Herkunft, sprechen Baschkirisch oder Tatarisch – einander verwandte Turksprachen – und entstammen einer islamisch geprägten Kultur.

Eine Woche verbrachten wir in dem baschkirischen Dörfchen Arievo (einige hundert Kilometer von der Hauptstadt Ufa entfernt) in einer Jugend-Baubrigade mit dem schönen Namen „Druschba“. Die meisten der etwa 25 jungen Ufaer, mit denen wir dort zusammenlebten, fahren fast jeden Sommer in die Baubrigade. Das Geldverdienen ist dabei eher unwesentlich: „Was wir hier machen? Zusammen arbeiten, zusammen trinken, zusammen schlafen!“ – wurden wir gleich zur Begrüßung aufgeklärt. Und in der Tat, das Gemeinschaftsleben steht im Mittelpunkt: bis zum Morgengrauen am Lagerfeuer sitzen, singen, erzählen, Feste feiern – und der Wodka immer dabei…

Selbst scheinbar hartgesottene Individualisten unter den Deutschen konnten sich dem nicht entziehen. Wem es trotzdem hin und wieder zu laut wurde, der fand in der Brigade – allerdings vor allem unter den Frauen – auch sehr aufgeschlossene Gesprächspartner oder zog sich auf langen Spaziergängen in die unberührte Natur ringsum zurück.

Nach dieser Woche waren wir alle ein gutes Stück „zusammengerückt“ – genug, um uns in ein gemeinsames Abenteuer hineinzubegeben: Eine zehntägige Paddeltour auf der Belaja, dem längsten Fluss Baschkiriens. Auf Sportlichkeit kam es dabei nicht so an. Lieber ließ man sich treiben, um die überwältigende Landschaft zu genießen oder ins erfrischende, glasklare Wasser zu springen… Wo die Natur etwas ganz besonderes zu bieten hatte, wurde halt gemacht, wurden Höhlen erkraxelt und Wasserfälle bestaunt – von Touristen keine Spur.

Und nach zehn Tagen mit dem Autobus zurück in die Zivilisation – in die Millionenstadt Ufa. Dort blieben uns nur noch zwei Tage mit unseren russischen Freunden, dann wurde schon Abschied gefeiert. Einige Abschiedstränen zeigten, dass wir inzwischen wirklich Freunde waren.

Corinna, 1996