Vor einigen Wochen wurde ich, im Rahmen meiner Recherchen zu einem anderen Beitrag, in das Museum für Kriegsruhm (Muzej boevoj slavy) eingeladen. In seiner Daueraustellung blickt es sozusagen aus der Perspektive Baschkortostans auf die Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Seine Eröffnung feierte das Musem im Jahr 2000 zum 55-jährigen Jubiläum des Großen Vaterländischen Krieges, pünktlich zum Tag des Sieges am 8. Mai, und es befindet sich, wie sollte es auch anders sein, mitten im Park pobedy – also dem Siegespark.

Die Art und Weise, wie in Russland in der Regel öffentlich und offiziell an den Zweiten Weltkrieg erinnert wird, löst bei mir, vorsichtig formuliert, immer ein gewisses Unbehagen und befremdliches Gefühl aus: der “Große Vaterländische Krieg” ist weiterhin vor allem zu einem nationalen Mythos hochstilisiert. Als Nation Stolz sein zu können auf diesen Sieg ist dabei die scheinbar wesentliche Botschaft, der ehrenhafte Kampf der Vaterlandsverteidiger steht im Zentrum der Geschichtsvermittlung. Na gut, von einem kulturrelativistischem Standpunkt aus könnte man argumentieren, dass das eben die russische Sichtweise auf die Ereignisse ist und eine besondere Form kultur-historisch geprägter Wahrnehmung. Diese ist ja auch nicht völlig ungerechtfertigt, der Sieg über den Faschismus, daran gibt es nichts zu zweifeln, besitzt eine enorme historische Bedeutung. Allerdings blendet jene – und das im Grunde schon seit über einem halben Jahrhundert – bewusst auf bestimmte Aspekte reduzierte Sichtweise wesentliche weitere Teile des Geschehens aus und schönt somit letzendlich die Geschichte, auch der Vor- und Nachkriegszeit, insgesamt immens. Die Dominanz dieser eingeschränkten Wahrnehmung treibt merkwürdige und teilweise erschreckende Blüten im Geschichtsbild auch der heutigen russischen Gesellschaft – etwa, das Stalin nach wie vor von Vielen als der Größte aller Vaterlandsverteidiger betrachtet wird.

Mein Besuch im Museum für Kriegsruhm ließ mich persönlich mit einer weiteren solcher Auswüchse in Kontakt geraten. Zufälligerweise fiel meine Anwesenheit gerade auf den 9. Dezember, seit 2007 der “Tag der Vaterlandshelden” (Den’ Geroev Otetschestvo). Aus diesem Anlass fand deshalb im Museum eine ganz besondere Form dessen statt, was üblicherweise als “patriotische Erziehung der Jugend” bezeichnet wird. Das ist eine häufig anzutreffende Floskel für eine Art der Geschichtsvermittlung, die sich letztendlich vor allem darauf konzentriert, die ruhmreichen Leistungen der russischen Vergangenheit möglichst grell in den Vordergrund zu rücken. Via Skype-Konferenz führte ein Museumsmitarbeiter eine “interaktive Unterrichtsstunde” mit einer allgemeindbildenden Schule in einer kleinen Provinzstadt irgendwo in Baschkortostan durch. Auf der Homepage des Museums heißt es, das ganze wurde organisert “mit dem Ziel der patriotischen Erziehung der heranwachsenden Generation am Beispiel der Tapferkeit und des Heldenmuts jener Landsleute, die 1941-1945 am Großen Vaterländischen Krieg teilgenommen haben”. Die Stunde selbst lief unter dem Titel: “Die Waffen der Helden des Sieges” (Oruschie geroev pobedy). In diesem Sinne wurde im Verlauf des Unterrichts den Zuschauern auf der anderen Seite des Bildschirms, die sich, trotz mehrfacher Aufforderung, alles andere als interaktiv verhalten haben, eine ganze Reihe verschiedener, aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges stammender automatischer Schnellfeuergewehre präsentiert. Der besagte Museumsmitarbeiter zeigte sich überaus motiviert, jegliches Detail in der Funktionsweise dieser Gewehre zu erläutern, auch, wieviele Kugeln man damit, ich zitiere wörtlich, “in den Körper des Feindes entleeren” könne. Ebenso die Benutzung des montierbaren Bajonetts, dass zusätzlich, sollte der Gegner trotz des Kugelhagels noch nicht erledigt wurden sein, zum Einsatz kommen kann, wurde durch enthusiastische Handbewegungen demonstriert.

Nun ist mir zunächst einmal nicht ganz klar, wie eine derartige Präsentation ein besseres Verständnis von historischen Ereignissen und Zusammenhängen vermitteln soll. Aber gut, darum geht es bei patriotischer Erziehung offsichtlich ja auch gar nicht. Was mich vor allem aber regelrecht hat zusammenzucken lassen war die Tatsache, dass der Museumsmitarbeiter diesen Unterricht in der Uniform eines NKWD-Offiziers durchgeführt hat. Der NKWD war bekanntermaßen die Geheimpolizei Stalins und, in den Worten des Historikers Stefan Plaggenborg, eine “mörderische staatliche Organisation, die zu den blutigsten gehört, welche die Geschichte jemals hervorgebracht hat”. Während des Krieges etwa haben Angehörige der NKWD auch auf die eigenen, vor der immer weiter vorrückenden deutschen Front zurückweichenden Soldaten geschossen, um sie so zum Weiterkämpfen zu zwingen und da Rückzug als zu bestrafender Verrat interpretiert wurde. Da habe ich mich doch unweigerlich gefragt, wie genau passt denn jetzt der Auftritt in einer NKWD-Uniform zusammen mit dem Titel des Unterrichts, den “Waffen der Helden des Sieges”? Eigentlich unfassbar dieser, im wahrsten Sinne des Wortes, zur Schau getragene, völlig unreflektierte Umgang mit Geschichte. Aber gut, um eine kritische Aufarbeitung geht es bei patriotischer Erziehung offensichtlich ja auch gar nicht.

Matthias Kaufmann, Januar 2013