Am 3. Oktober jährte sich die Wiedervereinigung Deutschlands zum 15ten Mal. Dieses Ereignis ist ohne Zweifel bedeutend für das ganze deutsche Volk. Aber die Einstellungen dazu sind in Ost- und Westdeutschland höchst heterogen. Und das ist in erster Linie mit dem riesigen Unterschied im Entwicklungsniveau der alten und der neuen Bundesländern verbunden.

Auf der Visitenkarte des Ostens stehen immer noch die hohe Arbeitslosigkeit, stillstehende Großbetriebe, leerstehende Häuser. Im Westen sind die ganzen großen Unternehmen konzentriert, viele Jugendliche ziehen hierher auf der Suche nach besser bezahlter Arbeit. Sogar von Außen unterscheiden sich die östlichen Städte von den westlichen: die ersten sind voller Architekturdenkmäler, wodurch die Touristen angezogen werden, die zweiten sind typische kapitalistische Städte mit Hochhäusern und grellen Lichtern der Außenwerbung.

Das Bundestagsgebäude in Berlin

Das alles rief sehr viel Zweifel an dem Wiedervereinigungsprozeß hervor. Einige Experten beurteilen eilig, dass die Wiedervereinigung durchgefallen ist. Es gibt auch die Meinung, dass die Mauer niedergerissen war, sie aber in den Köpfen der Menschen stehen blieb. Einige finden dagegen, dass 15 Jahre eine zu kurze Zeit für das endgültiges „Zusammenwachsen“ der 2 ehemaligen Staaten ist. Dieses Thema schien uns besonders interessant in Zusammenhang mit historischen Daten im Oktober und November (am 9. Novermber wurde die Berliner Mauer geöffnet). Und wir fanden es besser, dass die Deutschen selber ihre Meinungen in dieser Hinsicht uns mitteilen.

 

1. Welche Erinnerungen an den Prozess der Wiedervereinigung Deutschlands haben Sie? Welche Vorfälle, Assoziationen sind im Gedächtnis geblieben?

Ralf: Genau genommen war es ja keine Wiedervereinigung, sondern die DDR hat sich aufgelöst und die 5 neu entstandenen Länder sind der BRD beigetreten. Ich kann mich erinnern, dass es dazu alternativ die Idee einer Konföderation zwischen BRD und DDR gab. Ob das allerdings besser gewesen wäre, weiß ich nicht. Zumindest ging alles rasend schnell. Ich war von September 1989 bis August 1990 bei der Nationalen Volksarmee. Die ganze Ausreisewelle über Ungarn habe ich nicht mitbekommen, weil ich vorher 5 Wochen in der Sowjetunion war, davon 3 Wochen im Ural ohne Radio und Zeitungen. Auch bei der Armee war dann das Schlimmste der Informationsmangel. Ich war in der Nähe von Berlin stationiert. Einmal saßen wir abends 2 Stunden auf dem LKW, weil in Berlin eine große Demo stattfand. Zum Glück hatten wir zwar keine Waffen mit, nur Gummiknüppel. Aber ich möchte mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, was gewesen wäre, wenn wir losgefahren wären. Auch an den 9. November, den Tag des Mauerfalls habe ich nicht so gute Erinnerungen. Wir hatten am 10. den ganzen Vormittag Alarm und saßen mit Kalaschnikow und 60 Schuss Munition im Zimmer, weil die Amerikaner in Berlin wohl auch Alarm ausgerufen hatten. Das funktionierte damals noch!

Es gibt aber auch schöne Erinnerungen. So wurden damals bei uns Soldatenräte gegründet und es war irgendwie „revolutionär“, wie wir mit den Offizieren unsere Forderungen über Dienstzeiten und Informationsfreiheit diskutierten. Im Januar/Februar 1990 hat meine Einheit dann im Süden von Berlin beim Abbau der Mauer mitgeholfen. Das war natürlich ein „historischer“ Moment! Allerdings haben wir das nicht mit Hammer und Meißel gemacht. „Mein“ Mauerstück zuhause ist deshalb etwas größer.

Karsten: Es war eine wirklich aufregende Zeit: Jeden Tag gab es was Neues in Halle-Neustadt: Westdeutsche Produkte in der Kaufhalle, Gebrauchtwagenmärkte an jeden Straßenecke, Diskussionen in der Schule, neues Geld und am 3.Oktober eine Art extra-Silvester mit Feuerwerk (incl. betrunkene Nachbarn!).

Berliner Mauer

Besonders gut kann ich mich noch an den ersten Besuch „im Westen“ erinnern. Ich bin mit meinen Eltern nach Westberlin gefahren, um das so genannte „Begrüßungsgeld“ abzuholen. Ein Bummel über den Ku’damm in Berlin, danach wieder durch die Lücke in der Berliner Mauer zurück in den Osten…

Thomas: Das neue dreigliedrige Schulsystem fand ich toll, weil endlich die ganzen Bremser in der anderen Klasse waren und ich mich weniger im Unterricht langweilen musste. Der Staatsbürgerkundeunterricht wurde durch neue Fächer ersetzt, obwohl das eigentlich das einzige Medium war, bei dem ich bezüglich der DDR-Realität mal gestutzt hatte: sozialistische Parolen auswendig lernen, von denen selbst der Lehrer nicht überzeugt war und die offensichtlich nicht der Wirklichkeit entsprachen?

In der Familie konnte sich unsere Schwester mit der Hilfe unserer Mutter ein Auto kaufen, obwohl sie noch in der Ausbildung war, und musste keine 10 Jahre dafür warten. Unsere Mutter wurde selbstständige und wir Kinder haben uns erstmals mit ihrer arbeit beschäftigt: sie konnte sich die Zeit einteilen, manchmal hat sie aber auch von existenziellen Problemen und Ängsten erzählt, wenn die Firma nicht gut lief.

Ein Abschnitt der Berliner Mauer

Ulrike: Ich erinnere mich, dass es kein Guten-Morgen-Lied mehr vor dem Unterricht gab, dass die Fahnenappelle und Pionierbluse wegfielen und dass die Besuche bei der Patenbrigade nicht mehr gemacht wurden. Ich habe kein Altpapier und Altglas mehr gesammelt.

2. Was meinen Sie, welche Auswirkungen hatte der Wiedervereinigungsprozess auf die Entwicklung Deutschlands?

Ralf: Hauptsächlich positive. Sowohl wirtschaftlich als auch politisch. Wirtschaftlich hat in den ersten Jahren vor allem der Westen profitiert, im Osten ist die Wirtschaft ja fast zusammengebrochen. Andererseits hat der Osten inzwischen häufig die bessere Infrastruktur, da vieles in den letzten Jahren neu gebaut wurde. Dass Deutschland wiedervereint ist, wird wohl mehr im Ausland gesehen als von den Deutschen selber. Allerdings ist inzwischen der Schwung, den die Vereinigung brachte, etwas verschwunden. Da haben die Deutschen in der internationalen Entwicklung wohl ein bisschen was verschlafen.

Karsten: Einschneidende. Positiv ist auf alle Fälle, dass alle Deutschen wieder in einem Land leben können (naja, bei manchen Leuten wäre aber eine Mauer auch nicht schlecht!). Auch führte die Wiedervereinigung zu einer Erhöhung des Lebensstandards in den neuen Bundesländern, es eröffneten sich völlig neue Möglichkeiten und Freiheiten für die Bürger. Leider wurde es versäumt, bei der Gelegenheit auch viele überholte Dinge im westdeutschen Gesellschaftssystem zu reformieren und einen wirklich neuen Anfang zu wagen. Dies ist nicht geschehen und vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang besser von einem Anschluss der DDR an die BRD sprechen, da das gesamte kapitalistische Westsystem auf den Osten Deutschlands übertragen wurde.

Ein Abschnitt der Berliner Mauer

Steffen: Von der finanziellen Seite betrachtet eine hohe Verschuldung des Staates (der Prozess fand zu schnell und nicht überlegt statt), welche durch zusätzlich auftretende Probleme (Demographie, dauerhafte hohe Arbeitslosigkeit, hohe Gesundheitskosten, u.a. bedingt Durch den Einsatz neuer Technologien und immer mehr Patienten etc.) weiter verschärft wird.

3. Welche Unterschiede bestehen zwischen Ost- und Westdeutschen?

Ralf: Ich mag eigentlich keine Stereotypen. Es gibt nicht den typischen Ost- oder Westdeutschen. Außerdem muss man große Unterschiede zwischen den Generationen machen. Wer (fast) sein ganzes Leben in einem der beiden Teile und dem dazugehörigen System gelebt hat, kann sich sicher nicht einfach umstellen. Bei der jungen Generation, die die Teilung nicht oder nur als Kinder erlebt hat, sehe ich kaum noch Unterschiede zwischen Ost und West. Mentalitätsunterschiede gibt es sicher immer noch. Die gibt es aber auch zwischen Nord- und Süddeutschen. Die größten Vorurteile haben wahrscheinlich immer noch die Leute, die selbst noch nie im anderen Teil Deutschlands waren oder mit Leuten von dort befreundet sind.

Karsten: Ich denke, dass in meiner Altersklasse nicht so große Unterschiede bestehen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Wessis etwas besser verkaufen können und die Selbstdarstellung einfach besser beherrschen. Der Vorteil der Ossis ist eben, dass sie zwei verschiedene Gesellschaftssysteme kennen gelernt haben.

Steffen: Für die Ostdeutschen ist noch immer ein vorhandener Arbeitsplatz das „Wichtigste“. Das kommt vom ehemaligen Staatsystem der DDR her, wo quasi der Staat die Fürsorgepflicht besaß und auch umsetzte, jedem einen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen. Ich glaube auch, dass für die Mehrzahl der Ostdeutschen immer noch Geld (Kapital) eine nicht so wichtige Rolle spielt wie eben andere viele kleine wichtige Dinge im Leben (z.B. das Gefühl zur Gesellschaft dazu gehören zu können – das Gefühl von Mitmenschlichkeit untereinander).

Viele Ostdeutsche fühlen sich von den Menschen aus den alten Bundesländern nicht verstanden. Sie vertreten wie ich denke zu Recht die Auffassung, dass nicht alle Ostdeutschen das Gebiet der ehemaligen DDR verlassen können, um nach Arbeit zu suchen….

Die Westdeutschen können nun wiederum die Menschen aus den neuen Ländern oftmals nicht verstehen. Sie sehen nur die Zig Millionen und Milliarden, die per Transfer in den Osten gegangen sind und natürlich in der Tat auch bereits vieles getan wurde. Aber das Wichtigste (nämlich ausreichend Arbeitsplätze) eben nicht, und da nützt auch eine ausgebaute Tourismuslandschaft, ein schönes Stadtbild, eine immer mehr besser ausgebaute Infrastruktur kaum etwas, wenn viele Menschen gar nicht das Geld haben um „Das Neue“ und „das Schöne“ zu nutzen………… Ein offenerer und ehrlicherer Dialog mit Blick auf die Faktenlage wäre wünschenswert und beide Seiten müssen in Zukunft noch mehr aufeinander zugehen…..

Dilara Dilmukhametova, 18.10.05