Am 15. Februar ist ein Meteor über Tscheljabinsk hinweg geflogen. Nach der Explosion sind Teile davon in den 100 Kilometer entfernten Tscherbakul-See gestürzt. Ein Ereignis, das tagelang die Schlagzeilen von Medien in der ganzen Welt beherrschte. Sechs Wochen später mache ich mich auf in die Region. Wie laufen mittlerweile die Wiederaufbau-Arbeiten? Wie gehen die Menschen vor Ort mit den Ereignissen um?

Zerstörte Straßenzüge? Kaputte Fenster? Menschen mit Bandagen am ganzen Körper? Leute, die ängstlich immer wieder nach oben schauen, ob denn nicht erneut ein Himmelskörper im Anflug ist? All das hätte man bei einem Spaziergang durch die Straßen von Tscheljabinsk erwarten können, auch wenn es natürlich stark übertrieben ist. Doch nichts davon entspricht der Realität. Es scheint vielmehr so, als hätte es den Meteor nie gegeben.

Fast schon ein wenig enttäuscht war ich am Morgen des 8. April beim Verlassen des Tscheljabinsker Bahnhofsgebäudes. Es bot sich das typische Panorama einer russischen Industrie-Großstadt, doch von durch den Meteor hervorgerufenen Zerstörungen keine Spur. Offensichtlich haben die russischen Fensterbauer ganze Arbeit geleistet und innerhalb kürzester Zeit sämtliche zerstörten Gebäude in der Region mit neuen Fenstern versehen. Nur bei einem einzigen Gebäude konnte man anstatt eines Fensters eine provisorische Plastikfolie erkennen. Die Reparaturkosten sind vom russischen Staat übernommen worden. Böse Zungen behaupten daher, dass einige Anwohner ihre Fenster selbst kaputtschlugen, um ebenfalls neue Fenster finanziert zu bekommen.

Einen Eindruck von den Ereignissen des 15. Februar 2013 kann man lediglich aus Gesprächen mit Einheimischen gewinnen. An jenem Tag ging immerhin der größte bekannte Meteor seit 1908 auf die Erde nieder. Außergewöhnlich war dabei die hohe Anzahl an Verletzten, denn erstmals explodierte ein Meteor in der Nähe einer Millionenstadt. Die Verletzungen wurden jedoch nicht durch den Meteor selbst hervorgerufen, sondern durch indirekte Einflüsse, vor allem durch umherfliegende Glassplitter. Gemeldet wurden knapp 1.500 verletzte Personen und über 7.000 Gebäude mit Tausenden zerstörten Fenstern. Der Gesamtschaden wird von offizieller Seite auf eine Milliarde Rubel (25 Millionen Euro) beziffert.

Einmalig sind auch  die vielen Aufzeichnungen des Ereignisses. Gerade die in nahezu jedem russischen Neuwagen installierten Autokameras liefern Unmengen von Videomaterial für die Nachwelt. Wieso Russen eigentlich Videokameras in ihren Autos haben? Nun, die Antwort ist sehr einleuchtend, wenn man den Verkehr in Russland kennen gelernt hat und weiß, dass Korruption hier sehr verbreitet ist. Im Falle von unverschuldeten Unfällen sollte man vor Gericht so viel Beweismaterial wie möglich vorweisen können – am geeignetsten ist eine Videoaufzeichnung  des Unfallhergangs. Praktisch ist, dass sich die Kameras nicht nur dafür eignen, Autounfälle aufzunehmen, sondern nebenbei auch historisch einmalige Geschehnisse wie die Explosion von Meteoren.

Der Meteor von Tscheljabinsk explodierte laut NASA-Angaben in einer Höhe von ungefähr 20 Kilometern und hatte eine Sprengkraft von 440.000 Tonnen TNT – 20- bis 30-mal mehr Energie als bei der Detonation der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki. Er hatte einen Durchmesser von 15 bis 20 Metern und wog um die 10.000 Tonnen. Vor dem Eintritt in die Erdatmosphäre wurde der Meteoroid nicht entdeckt, weil solche kleinen Flugobjekte nicht systematisch beobachtet werden.

Für all diejenigen, die sich über die exakte Bezeichnung des Flugobjekts wundern, denn dem Autor war dies vor Beginn der Recherchen auch nicht klar. Als Meteoroiden werden kleine Flugobjekte mit einem Durchmesser von einigen Millimetern bis zu mehreren Metern bezeichnet, die auf einer Umlaufbahn um die Sonne unterwegs sind. Dringt ein solcher Meteoroid in die Erdatmosphäre ein, erzeugt er am Himmel eine Leuchterscheinung – den Meteor. Die wenigen Teile des Objektes, die den Erdboden erreichen ohne vollständig zu verglühen, sind die sogenannten Meteorite.

Für die Einwohner Tscheljabinsks war es in jenem Moment natürlich vollkommen egal, ob da jetzt ein Meteor oder ein Meteorit über ihren Köpfen hinweg flog. Dennoch waren die meisten in erster Linie weniger erschrocken als sehr überrascht. Die Augenzeugin Olga Achramenko, Public-Relations-Studentin in Tscheljabinsk, war zum Zeitpunkt des Ereignisses im Büro. Da ihr Schreibtisch gegenüber einem großen Fenster steht, wurde sie schnell auf ein außergewöhnlich helles Licht aufmerksam. Es ging von dem verglühenden Meteor aus und war zeitweise sogar heller als die Sonne. Sofort lief sie hinaus, um das Spektakel besser beobachten zu können. Wie die meisten Menschen dachte sie zunächst an ein abstürzendes Flugzeug, denn in der Nähe der Stadt befindet sich ein wichtiger Militärflughafen. Doch bald wurde klar, dass das Flugobjekt zu groß für ein Flugzeug war und außerdem ein anderes Geräusch machen würde. Im ersten Moment wussten die meisten nicht, was man machen sollte. Medien wie das lokale Radio konnten nicht sofort aufklären, obwohl viele Anrufe mit Fragen eingingen.

Ljajla Ilinskaja, Dozentin für Wirtschaft an der Süd-Uralischen Staatlichen Universität, war gerade auf dem Weg zur Arbeit. Sie berichtet, dass der Meteor höchstens 30 Sekunden gebraucht hat, um den gesamten Horizont zu durchqueren. Eine ältere Frau in ihrer Nähe habe sich auf den Boden geworfen und ängstlich „Krieg, Krieg!“ geschrien, doch die meisten Menschen haben sich ruhig verhalten. Als sie an der Universität ankam, erblickte sie das ganze Ausmaß der Zerstörung: Nahezu alle Fenster der Gebäude waren nicht mehr heil. Für die Studenten der Universität hatte der Meteor aber auch angenehme Folgen. Der Direktor ordnete drei Tage Ferien an, um die nötigsten Reparaturen schnell umsetzen zu können.

Ljajla hat zu unserem Treffen sogar vier kleine Stücke des Meteoriten mitgebracht, die sie von Bekannten aus der Umgebung Tscherbakuls erhalten hat. Ich durfte die kleinen dunkelschwarzen Steine in die Hand nehmen – ein erhabenes Gefühl, Materie in der Hand zu halten, die Millionen von Jahren durch den Weltraum geflogen ist. Die Dozentin ist sich sicher, dass es sich um echtes Meteoritengestein handelt. Im Internet sind seit ein paar Wochen aber auch dubiose Angebote von Steinesammlern zu finden, die angebliche Stücke des Flugkörpers für Tausende von Rubeln versteigern.

Ljajla freute sich sehr über die weltweite mediale Aufmerksamkeit, die Tscheljabinsk in den Tagen nach dem Meteoriteneinschlag erfuhr. In der Tat, Tscheljabinsk war für die meisten Menschen in Europa vorher kein Begriff. Auch ich wusste vor meinem Besuch nicht so recht, wie man sich die Stadt vorstellen soll. Der amerikanische Russland-Reiseführer gibt eine wenig schmeichelnde Beschreibung: „Industrial, earthy, like many Russian cities in shocking disrepair beyond the main squares and streets, and lacking high-profile sights, Chelyabinsk would at first glance seem to be a place best visited as a springboard than as a destination itself.” (Industriell, schmutzig, wie viele russische Städte außerhalb der Hauptplätze und –straßen in schockierendem Bauzustand, fehlende hochklassige Sehenswürdigkeiten – man könnte auf den ersten Blick den Eindruck bekommen, dass Tscheljabinsk eher als Sprungbrett denn als Ziel selbst einen Besuch wert ist.)

Natürlich ist Tscheljabinsk als russische Industriestadt keine Schönheit. Die aktuelle Jahreszeit ist auch nicht die geeignetste, um einen schönen Eindruck von der Stadt zu bekommen. Noch sind alle Bäume kahl und das Tauwetter führt dazu, dass Autos und Gebäude von einer dicken braunen Dreckschicht verdeckt werden. Trotzdem hat die Stadt bei mir kein negatives Bild hinterlassen.

Tscheljabinsk ist vor allem bekannt für die erstklassige Eishockeymannschaft Traktor Tscheljabinsk und als Industriezentrum von landesweiter Bedeutung. Im Zweiten Weltkrieg wurden hier so viele Panzer und Fahrzeuge hergestellt, dass die Stadt Tankograd (Panzerstadt) genannt wurde. Einige Panzer aus dem Krieg können heute im Siegesgarten (Сад Победы) bestaunt werden.

Interessant ist auch, dass Tscheljabinsk östlich des Ural und somit in Asien liegt. Die lokalen Autoritäten erhoffen sich, aus dem Meteoriten Kapital schlagen zu können und möchten mehr  Reisende in die wenig touristisch geprägte Region holen. Für den Sommer haben sich immerhin schon zwei japanische Reisegruppen angekündigt.

David Witkowski, April 2013