Die holprige Landstraße führt an einem dreisprachigen Schild vorbei. „Willkommen in der Kolchose Rossiya“ ist darauf in russischer, baschkirischer und deutscher Sprache zu lesen. Kurze Zeit später hält der Bus in Prishib, einem Dorf, etwa 90 Autominuten von Ufa entfernt. Der Eiswind fegt über die von Holzhäusern gesäumte Hauptstraße. Gegenüber dem erstaunlich modernen Glasbau der Oberschule wartet bereits Julias  Vater mit dem Auto auf uns. Julia, eine Studentin der Germanistik an der Baschkirischen Staatlichen Universität, hatte uns im Unterricht nur eine Kurzversion ihrer Herkunftsgeschichte erzählt und uns neugierig gemacht. Ein deutsches Dorf mitten in Baschkortostan? Das war uns neu und musste entdeckt werden.

Die ersten Worte des Vaters gingen an uns vorbei – spricht er Russisch oder Deutsch? Richtig zuordenbar war es nicht, auf jeden Fall irgendwie anders. Hinter dem letzten Haus von Prishib biegen wir auf einen unbefestigten Feldweg ab und nach kurzer, holpriger Fahrt sind wir am Ziel: Alexejewka – Julias Heimatdorf. Der Wagen hält vor dem kleinen kunterbunten Häuschen der Familie Mak. Die Mutter hat schon alles vorbereitet. Der Tisch ist reich gedeckt und neben knuspriger Ente und leckeren Salaten erwartet uns auch das eine oder andere Glas Wodka. Unsere Gastfamilie spricht – und das ist kaum zu glauben – Deutsch mit schwäbischem Dialekt, denn Schwäbisch ist hier Muttersprache.
Als wäre es ein Traum sitzen wir mitten im Herzen Baschkortostans in einem deutschen Wohnzimmer bei einem Glas Selbstgebranntem und unterhalten uns auf Deutsch. Der Alkohol lockert unsere Zungen und wir fallen in den Bann der unglaublich spannenden Geschichte um das Dorf Alexejewka.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts besaß das russische Zarenreich riesige Gebiete unbewohnten Landes. Um der Finanznot des Staatshaushaltes entgegenzuwirken erlaubte es Zarin Katharina II. ausländischen Staatsbürgern, sich in diesem Gebieten anzusiedeln und versuchte so, potentielle Steuerzahler anzulocken. Die damalige politische und wirtschaftliche Situation in Mitteleuropa und die von Katharina II. geschaffenen finanziellen und rechtlichen Anreize überzeugten Viele, sich auf eine abenteuerliche Reise nach Russland zu begeben. Etwa 100.000 Menschen, vor allem aus Süd- und Südwestdeutschland, gründeten daraufhin Kolonien auf dem Boden der heutigen Ukraine, ebenso wie in Gebieten nahe der Wolga und der Schwarzmeerküste.

Der große Kinderreichtum dieser Einwanderer führte innerhalb von 150 Jahren zu einer Versiebzehnfachung der deutschen Bevölkerung in Russland. So entstanden neben den Mutterkolonien tausende Tocherterkolonien – deutsche Siedlungen sogar bis nach Sibirien. Zu diesen neueren Kolonien gehören auch die Dörfer in Baschkortostan. Neben Prishib und Alexejewka wurden zwischen 1906 und 1910 neun weitere deutsche Dörfer in der Nähe von Ufa gegründet.

Das Abendessen neigt sich dem Ende. Bei Tee und Keksen fragen wir die Familie, für welches Land denn ihre Herzen heute schlagen. .“Wir sind natürlich Deutsche“ , sagen sie voller Stolz und Julias Mutter ergänzt: „Hier auf unserer kleinen Insel sind wir Deutsche. Wir sprechen einen deutschen Dialekt, wir pflegen deutsche Sitten und Traditionen und wir sind Katholiken. Es ist nicht immer einfach. Wir sprechen kein richtiges Deutsch und kein richtiges Russisch. Aber irgendwie können wir uns immer verständlich machen“.

Auch in den anderen deutschen Familien auf der sogenannten „Sprachinsel Prishib / Alexejewka“ ist der schwäbische Dialekt Muttersprache. Ab der ersten Klasse lernen die Kinder dann Russisch und Hochdeutsch, denn das Schwäbische ist keine Schriftsprache. Familie Mak erzählt uns, die geschriebene Sprache hätten sie früher Kodisch genannt, eine Schrift, die für sie heute nicht mehr lesbar wäre. Nach einigem Überlegen kommen wir zu dem Schluss, dass es sich beim ominösen Kodisch um eine der gebrochenen Schriftarten – umgangssprachlich auch als altdeutsche Schrift bekannt – handeln muss.

Wir sind erstaunt, als uns von den Sprachunterschieden zum 10 Minuten entfernten Dorf Prishib berichtet wird. Während man in Alexejewka beispielsweise zum Huhn „Hinkel“ sagt, bedeutet es in Prishib „Hiener“. Obwohl in beiden Dörfern schwäbischer Dialekt gesprochen wird, können sich einzelne Wörter sehr stark unterscheiden. Der Vater erzählt von einer Reise nach Novosibirsk, auf der er mit einigen Wolgadeutschen in Kontakt gekommen ist. Obgleich auch sie in einem deutschen Dialekt mit ihm sprachen, konnte er ihren Worten nicht folgen, aber der Wodka half, das Kommunikationsproblem zu lösen.

Es dämmert bereits, als wir unseren Rundgang durch Alexejewka beginnen. Die Häuser entlang der Hauptstraße sind heute nur noch zu einem kleinen Teil von deutschen Familien bewohnt. Von den ehemals 2000 Deutschen in Prishib und Alexejewka sind noch circa 210 geblieben. Zu Beginn der 1990er Jahre hat eine große Migrationswelle nach Deutschland für diesen Bevölkerungsschwund gesorgt. Die anhaltende Landflucht tut ihr übriges, um die deutsche Bevölkerung in Baschkortostan weiter zu dezimieren.

Julias Mutter ist eine von zwei Grundschullehrerinnen hier im Dorf und entführt uns an diesem spannenden Samstagabend in das kleine Schulhäuschen. Nicht nur Birken säumen den Eingang, sondern auch Pappeln, die die ersten Dorfbewohner pflanzten, um sich in den klassischen russischen Birkenwäldern heimischer zu fühlen. Zurzeit gibt es 16 Schüler, die sich in zwei Klassen aufteilen. Nur noch vier von ihnen sind deutsch. Das Interieur in den zwei Klassenzimmern ist seit der Gründung 1932 noch immer sehr gut erhalten und zeugt von viel Liebe und Wertschätzung gegenüber der eigenen Vergangenheit.
Ein kleines Schulmuseum bringt uns vor Freude beinahe zum Weinen. Baschkirische, russische und deutsche Ausstellungsstücke lassen den kleinen Raum fast Platzen. Ein niedlicher Kostümfundus, eine winzige dreisprachige Schulbibliothek, Wandzeitungen, Fotoalben, mit Vokabeln beschriftetes Geschirr und eine kleine Sammlung traditioneller Küchenutensilien aus der Gründerzeit. All dies ist von unendlich großem Wert, aber unsere Zeit zu kurz, um all den wundervollen Kleinigkeiten ausreichend Respekt zu zollen. Wie auf Wolken schweben wir weiter, beeindruckt und voller Hochgefühl, durch den Eissturm „Buran“ zum Häuschen der örtlichen Bibliothekarin.

 

 

 

 

 

Sie führt in Alexejewka eine Bibliothek mit etwa 9000 Büchern. Die meisten davon sind in baschkirischer Sprache geschrieben, aber 400 Werke auf Deutsch erhältlich. Die ältere Dame erzählt aus ihrer Kindheit. Geschichten, Lieder und Gedichte seien in der Gründerzeit nur mündlich überliefert worden. Stolz zeigt sie uns alte Schulhefte, in die sie früher die Lieder ihrer Mutter fein säuberlich aufgeschrieben hat. Nun sehen wir den schwäbischen Dialekt doch einmal in geschriebener Form und unterdrücken ein Lachen, als wir die lustig „falsch“ geschriebenen Wörter erblicken. Es wurde eben alles so aufgeschrieben, wie man es hörte – ohne Rechtschreibregeln.

Am nächsten Morgen besuchen wir den Sonntagsgottesdienst in der katholischen Kirche des Dorfes. Die kleine hölzerne Kapelle wurde erst 1996 wiedererrichtet, denn zu Sowjetzeiten war es hier nicht gestattet, seine Religion frei auszuüben. „Trotzdem hat die Dorfälteste immer alle Kinder getauft und mit uns gemeinsam die christlichen Feste gefeiert“ “, erinnert sich die Mutter. Nach Wiederaufbau der Kirche übernahm der Tiroler Pater Johannes die kleine Gemeinde und fortan wurde der Gottesdienst auf Deutsch gehalten – sehr zur Freude der Dorfbewohner. Der frühe Tod des Paters im Alter von 48 Jahren bedeutete das Ende der deutschsprachigen Messen und versetzt die Dorfbewohner noch heute in große Trauer. Nun betet ein deutscher Pater auf Russisch – ein kleiner weiterer Tropfen, der den Stein höhlt und das Dorf mehr und mehr „entdeutscht“. Umso fröhlicher begegnen uns die Gemeindemitglieder bei der Messe am Palmsonntag und suchen deutschsprachigen Kontakt zu uns. Man sieht ihnen die Freude beim Gebrauch ihrer Muttersprache an – einer Sprache, die nun droht, in Vergessenheit zu geraten.

Als wir uns am Nachmittag auf den Heimweg nach Ufa machen, sind wir von den Erlebnissen überwältigt und auch ein wenig traurig. Die aktuelle Situation in Alexejewa lässt erahnen, dass es in der nächsten Generation hier keine Deutschen mehr geben wird. Die Kolchose, bisher Arbeitgeber für viele Dorfbewohner ist bankrott. Von den Jugendlichen hält es keinen mehr auf dem Land. Sie ziehen in die Städte, denn das Landleben ist für sie nicht mehr zeitgemäß. Es bleibt zu hoffen, dass diese Siedler als Teil der russischen Geschichte für immer in Erinnerung bleiben und dass es den anderen deutschen Kolonien in Russland vielleicht besser ergehen wird. Der Tag in Alexejewka jedenfalls wird so schnell nicht aus unserem Gedächtnis verschwinden. Ein für immer unvergessliches Erlebnis – mitten auf einer kleinen deutschen Insel, im Herzen von Baschkortostan.

Julia Hoppe, Tobias König, April 2010