Etwas versteckt und unscheinbar, hinter dem Gebäude einer Feuerwehr und umgeben von alten, windschiefen Holzhäuschen und verrosteten Garagen, befindet sich die evangelisch-lutherische Kirche Ufas. Sie beherbergt eine kleine Gemeinde, deren Mitglieder eine ganz eigene Identität aufrechterhalten.

Unter den Klängen einer elektronischen Orgel versammelt man sich zum sonntäglichen Gottesdienst. Lediglich eine Handvoll Personen finden sich letztendlich dazu ein, die meisten von ihnen bereits etwas älter. „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“, beginnt Pastor Heinrich Minich die Messe auf Deutsch. Außer ihm spricht hier eigentlich niemand, oder höchstens nur sehr wenig diese Sprache, auch wenn die Mehrheit der Gemeindemitglieder deutsche Wurzeln besitzt. Der Gottesdienst wird, mit Ausnahme der Predigt, dennoch auf Deutsch gehalten, mit anschließender russischer Übersetzung der jeweils vorgetragenen Bibelpassagen. Auch das Gesangsbuch ist entsprechend zweisprachig, ebenso wie die Rezitation der Lieder.

Deutsche Siedler in Baschkirien

In der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es auf dem Territorium des russischen Imperiums vor allem drei große Siedlungszentren deutschsprachiger Bevölkerung: die Ukraine, die Krim und das Wolgagebiet. Um die Jahrhundertwende kam es allerdings zu Wanderungsbewegungen aus diesen Gebieten weiter in Richtung Osten. Die Gründe hierfür waren die sich verringernde Verfügbarkeit von Land bzw. die abnehmende Fruchtbarkeit der alten Ländereien. Die Mehrheit auch der deutschsprachigen Siedlungen in Baschkirien ist deshalb genau in diesem Zeitraum entstanden.

Als Vermittler beim Erwerb von Ackerland für die neuen Siedler trat dabei die sogenannte Landbank (Krest’janskij pozemel’nyj bank) auf, einer seit 1883 im gesamten russischen Reich aktiven Finanzinstitution. Die Ufaer Filiale kaufte Ländereien von Privatbesitzern oder aus dem Erbbesitz baschkirischer Gemeinschaften und verkaufte sie an die sich neu niedergelassenen bäuerlichen Gemeinschaften weiter.

Die ersten deutschen Umsiedler innerhalb dieser Wanderungsbewegung gelangten Ende des 19. Jahrhunderts in das Gebiet Orenburg, wo die Bevölkerungsdichte noch besonders niedrig und die frei verfügbare Fläche somit noch größer war. Erst allmählich stießen sie weiter nach Norden in das Gouvernement Ufa vor. Das ist nicht zuletzt zurückzuführen auf eine zielgerichtete Tätigkeit der zarischen Regierung zur landwirtschaftlichen Nutzbarmachung der Region, einer allgemein verfolgten Strategie, die aber auch bedeutete, das sich der Zugriff der zum Teil noch nomadisch lebenden Baschkiren auf ihr Weideland deutlich verringerte.

Zu des 20. Jahrhunderts entstanden so deutsche Sprachinseln in Baschkirien, vor allem auf dem Land, da die Mehrzahl der neuen Siedler Bauern waren. Auch heute noch lassen sich diese Sprachinseln vereinzelt auffinden, etwa in den Dörfern Prishib und Alexejewka, unweit von Ufa gelegen, wo das Deutsche im schwäbischen Dialekt als Muttersprache gilt (näheres dazu HIER). In Ufa selbst entstand ebenfalls eine deutsche Gemeinde, die allerdings vergleichsweise klein blieb. Laut einer Volkszählung von 1926 lebten in der Stadt damals 231 Deutsche, was lediglich 0,2% der Bevölkerung entsprach.

Die lutherische Gemeinde in Ufa

Das Zentrum der deutschen Siedlung in Ufa lag in der ehemaligen nördlichen Vorstadt, der Gegend um den heutigen Park Jakutowa. 1910 entstand so genau an dieser Stelle auch die Lutherkirche. Der Gottesdienst wurde hier auf Deutsch, aber auch auf Estnisch und Lettisch gehalten, da nicht wenige der neuen Siedler aus dem Baltikum kamen. Zwar kam es 1927 noch zu einem Vertrag mit der Stadt, dementsprechend die Gemeinde das Kirchengebäude ohne Gebühren und zeitlich unbegrenzt nutzen könne. Nur drei Jahre später wurde dieser Vereinbarung allerdings gebrochen und die Kirche den Ufaer Motorenreperaturwerken übergeben. Während der Sowjetzeit folgten mehrere Umbauarbeiten und noch bis zum Jahr 2000 wurde das Gebäude als Lagerraum genutzt. Erst dann kam es zur Rückgabe an die evangelisch-lutherische Gemeinde der Stadt.

„Der Wiederaufbau erfolgte mit Unterstützung des Martin-Luther-Bundes in Deutschland“, erklärt Pfarrer Minich. „So kamen etwa deutsche Pastoren nach Ufa, manche von ihnen auch, um einfach nur bei den Erneuerungsarbeiten zu helfen.“ Die Gemeindemitglieder haben das Gelände wiederhergestellt und das Gebäude instand gesetzt. 2001 wurde Heinrich Minich dann zum ersten Pastor erklärt. „Ich wurde in erster Linie deshalb ausgewählt, weil ich noch Deutsch sprechen kann. Von meiner Ausbildung her bin ich eigentlich Ingenieur und als solcher habe ich auch in der Landwirtschaft gearbeitet.“ Eine theologische Ausbildung habe er erst nach seiner Wahl zum Pastor erworben, in Seminaren und in Selbstvorbereitung.

„Ich selbst“, so Minich, „habe Deutsch noch zu Hause gelernt, bei meinen Eltern.“ Wo seine Vorfahren herstammen, wisse er nicht genau, vermutet aber aufgrund seines Dialektes den süddeutschen Raum. Tatsächlich klingt, wenn er spricht, etwas leicht Schwäbisches in seinen Worten durch. „Meine Vorfahren sind um 1910 herum nach Ufa gekommen, hier hat freies Land zur Verfügung gestanden, auf dem sie sich niederlassen konnten.“

Deutsch als Ritualsprache

Zur Zeit der Neugründung der Gemeinde war die Zeit der Umsiedlungen bereits zu Ende, d.h. viele Russlanddeutsche hatten Russland bereits verlassen, sind nach Deutschland ausgewandert. „Vereinzelt lassen sich über die gesamte Republik Baschkortostan noch Nachkommen, also Leute mit deutschen Wurzeln finden“, erklärt Minich. „Die Meisten halten aber diese Verbindung nicht mehr aufrecht, sprechen die Sprache nicht mehr, identifizieren sich nicht mehr als Deutsche, haben auch andere Familiennamen – russische, baschkirische oder tatarische. Geblieben sind ja vor allem auch jene, die in gemischten Ehen leben.“

Die Gemeinde in Ufa ist deshalb sehr klein. Sie umfasst gerade einmal 45 Leute. Darunter gibt es auch solche, deren Verbindung nicht auf eine russlanddeutsche Herkunft zurückzuführen ist. „Eines unserer Mitglieder zum Beispiel ist getaufter Tatare, sein Großvater hat noch in der Medrese gelehrt.“

In diesem Umfeld, in dem kaum jemand wirklich Deutsch spricht, ist es interessant zu hören, wie die Sprache benutzt wird. Sie ist hier spürbar mehr als nur ein reines Kommunikationsmittel, da die Inhalte des Gottesdienstes in Form der sprachlich ausgedrückten Informationen vor allem über die russischen Übersetzungen weitergegeben werden. „Für einen Teil der Leute ist die deutsche Sprache zu hören wie Balsam“, wie Pfarrer Minich sich ausdrückt. „Selbst wenn sie nur wenig verstehen, fühlen sie sich als Teil der Gemeinschaft.“ Die deutsche Sprache ist somit vor allem ein in den Bibeltexten und Liedern konservierter Bestandteil des gottesdienstlichen Rituals und dessen auch identitätsstiftender Wirkung für die daran Beteiligten – einer Sonderidentität in der sonst russisch-orthodox und baschkirisch-muslimisch geprägten Umwelt.

Matthias Kaufmann, Juni 2014