Unsere ersten Tage in Russland verbrachten wir auf einem Seminar, welches uns vor dem Schock bewahren sollte, welcher die Menschen so oft erfasst, die in Länder reisen, deren Entfernung von der Heimat sich neben der Kilometerzahl vor allem an den kulturellen Verschiedenheiten festmachen lässt. Einer dieser Unterschiede zwischen Russland und Deutschland bestehe zum Beispiel darin, dass man in Russland das Private vom Beruflichen nicht so strikt trennen würde, Arbeit und Vergnügen stattdessen ineinander übergehen.

Am vergangenen Montag erlebten wir zum ersten Mal dieses Ineinanderübergehen von Pflicht und Vergnügen bei dem sogenannten Studentenfrühling, einem Fest, welches alljährlich als Pflichtveranstaltung in der BGU zu Beginn des Frühlings durchgeführt wird und bei dem die verschiedenen Fakultäten mit Tanz, Gesang und Schauspiel um den Pokal kämpfen, der am Ende der Konzertreihe die talentierteste Fakultät auszeichnet.

Es erschien mir ungewöhnlich, dass ein solches Kulturprogramm als obligatorischer Teil der Universitätsausbildung gilt und auch die angeblich eher unkreativen Fakultäten wie die naturwissenschaftlichen dieser Pflicht mit Freude nachgehen und jedes Jahr aufs Neue dieser entgegenfiebern. Dass viele Studenten selbst nach ihrem Universitätsabschluss zu diesem Anlass aufgeregt und freudestrahlend erscheinen, teilweise sogar aktiv am Programm teilnehmen, bewirkte bei mir erst Recht Verwirrung und das Aufkommen einer Vielzahl von Fragen.

Ich stellte Überlegungen an: Würde es gelingen, die Studenten in Halle für ein solches Projekt zu begeistern?. Würden diese mit genau so viel Engagement an die Vorbereitung gehen? In mir regten sich Zweifel, ob wir durch unsere Freiheit keiner solchen Pflicht zu unterliegen etwas verpassen oder gewinnen.

Ich dachte darüber nach, ob die Einstellungen zum Leben und zum Arbeiten in Russland und Deutschland tatsächlich so unterschiedlich seien, ob das Veranstalten dieser Art von Festen nur ein Überbleibsel der sozialistischen Vergangenheit sei, eine Möglichkeit von existierenden Problemen in Ufa und Russland abzulenken, indem man den Studenten eine Beschäftigung und ein Ziel jenseits der Politik stellt und auf diese Weise Zusammenhalt schafft, einen gewissen Stolz für ihre Universität, irgendwie auch für Ufa und für Russland als Ganzes hervorruft oder ob diese Art der Veranstaltung nur Verkörperung und Ausleben der russischen Seele ist, welche verbunden ist mit dem Hang zum Feiern, Singen und Tanzen. Über die meisten Fragen werde ich wohl vorerst nur spekulieren können, denn viel zu kurz lebe ich bisher in Ufa, um das Leben beurteilen zu können.

Aber als wir nach der Eröffnungsverantaltung mit einigen Studenten nach Hause gingen, wurde mir zumindest eine Sache bewusst. Auch hier trennt man das Private von der Pflicht. Außerhalb der Universität feierte man vergnügt weiter, nicht zusammen mit allen Studenten, sondern nur mit den engsten Freunden. Bald verstummten auch die Gespräche über die Auftritte, das Programm, über die Universität und man ging ausgelassen ins Private über.

Julia Glathe, April 2008