In Deutschland sagt man, wenn gute Leute wegfahren, regnet es. Ich denke, dass dieser deutsche Ausdruck an diesem Abschiedstag zur Geltung gekommen ist. Wir waren beim Packen und konnten noch nicht begreifen, mit welcher Stimmung wir wegfahren. Eigentlich zieht es uns zurück nach Hause, aber irgendetwas hält uns gleichzeitig hier. Und dieses Etwas ist vielleicht die Freundschaft, die hier während des Seminars in Wustrow geboren wurde.

Ehrlich gesagt, bekam das Wort Freiwillige im Laufe meines zweimonatigen Aufenthalts in Deutschland für mich doch keine Bedeutung. Ich ordnete es in die Gruppe von schönen Wörtern, hinter denen außer Schwülstigkeit nichts steckt. Aber alles sollte sich gerade in diesem Seminar ändern.

Das Ziel seiner Durchführung war es, den Menschen wie mir zu verstehen zu geben, was es bedeutet, ein Freiwilliger zu sein. Welche Pflichten und Rechte kann er in Anspruch nehmen? Auf welche Probleme kann er stoßen? Wozu kann es führen, und wie muss er eine Krise bewältigen? Wie soll er leben und mit Leuten, die in einer anderen Kultur aufgewachsen sind, kommunizieren? Wie kann man Selbstvertrauen behalten und seine angefangene Arbeit fortsetzen?

Unsere Tagungsstätte

Die im Seminar gestellten Aufgaben wurden mir in Wirklichkeit später bewusst. Und am Anfang war alles mehr alltäglich. 20 Menschen stiegen aus einem Bus im Vorort einer kleinen Stadt namens Wustrow. „Am Rande der Welt“, meinte einer der jungen Leute. Für viele war eine solche Aussicht nicht erfreulich. Dazu sollten wir hier gut 2 Wochen verbringen. Sie schien für uns eine Ewigkeit zu sein!

Wir wurden von unseren Teamern Anja, Cvetka und Michael abgeholt. Es stand ihnen bevor das Seminar durchzuführen. Man muss ihre Professionalität gebührend bewerten. Ihre Arbeit war nicht leicht. In einem kurzen Zeitraum sollten sie imstande sein, 20 ganz verschiedene Menschen zu vereinigen und sie auf Arbeit umzustellen. Das ist ihnen 100-prozentig gelungen, denn bereits am 3. Tag haben wir uns als einheitliche Mannschaft gefühlt. Wir haben nicht nur mit großer Lust am Tage gearbeitet, sondern enthusiastisch themagebundene Abende veranstaltet.

Der erste Tag der Aufenthalt war vielleicht einer der schwersten. Wir sollten einander näher kennen lernen, haben versucht uns die Namen und die Länder, woher wir kommen, zu merken. Schwierig war es auch mit der Sprache. Einige konnten sehr gut Deutsch und andere haben ihre ersten Schritte gemacht. Und wenn das am Anfang einige gehemmt hat, konnten wir später es reizend finden.

Der sprachliche Wirrwarr aus dem Deutschen, Englischen, Italienischen, Spanischen, Ungarischen, Französischen, Polnischen, Slowakischen und Russischen wurde ständig zum Anlass für einen nächsten Witz. Und damit es uns einfacher wäre sich in diesem Sprachsalat zurecht zu finden, haben wir ein großes Plakat gemacht, wo Hauptphrasen in verschiedenen Sprachen standen. So konnte man „Guten Morgen“ in der deutschen Sprache wünschen, „Guten Appetit“ auf Französisch, „Prost“ auf Russisch und „Gute Nacht“ auf Ungarisch usw.

Das Seminar bedeutete auch, dass wir Kultur des anderen Landes kennen lernen. Mit diesem Ziel wurde von den Teamern eine Pressekonferenz zum Thema „Deutsche Kultur“ veranstaltet. Die Gruppe konnte Anja, Cvetka und Michael über die deutsche Mentalität und Traditionen befragen. Danach wurde ein internationaler Abend organisiert, wo jeder möglichst interessant sein Land vorstellen konnte.

So wurde Italien präsentiert

Die erste Woche war in erster Linie darauf gerichtet, Projekte, wo wir teilnehmen, und selbst das Freiwilligenprogramm kennen zu lernen. Das alles ging zum Teil spielerisch vor sich. Obligatorisch war auch eine kreative Herangehensweise. Jeder Seminarteilnehmer hat sein Projekt als ein auf einem Blatt Papier gemaltes Haus vorgestellt. Im Erdgeschoss sollte jeder mit Symbolen Vorbereitung des Projekts im Heimatland darstellen, im ersten Stockwerk waren seine Wohnverhältnisse, im zweiten fand man seine Arbeit und auf dem Dachboden standen seine Kontakte mit Kollegen. Die Garage symbilisierte den Sprachkurs. So konnte man auch ohne Deutschkenntnisse sein Projekt vorstellen.

Am 4. Tag des Seminars kam Adelheid Scholten nach Wustrow. Sie hat ausführlich über das Freiwilligenprogramm erzählt und auch darüber, was es bedeutet ein Freiwilliger zu sein.

Sehr viele fanden es interessant über ihre Rechte und Pflichte zu erfahren. Sie beantwortete gerne unsere Fragen, z. B. in Bezug auf Finanzierung, Versicherung, Sprachkurs und so weiter. Individuelle Gespräche führte sie mit Pesonen, die Konflikte auf der Arbeit haben, ihr Projekt ändern oder kürzen möchten. Im Ganzen haben wir einen großen Vorrat an nützlichen Informationen gemacht.

Nach einer Woche erfolgreicher Arbeit haben wir endlich unser Wustrow für kurze Zeit verlassen. Wir hatten einen dreitagigen Ausflug nach Berlin vor. Die Haupstadt hat uns mit nicht besonders gutem Wetter empfangen. Das hat uns aber nicht gestört die ganzen Tage an historischen Orten umherzustreifen und sich Erzählungen von unserem Quasi anzuhören. So haben wir unseren Exkursionsleiter Dirk genannt, weil er dieses Wort sehr oft gebrauchte. Berliner Mauer, Brandenburger Tor, Bundestag sind die Hauptsehenswürdigkeiten der Stadt, die jetzt für uns im anderen Blickwinkel erschienen. Zuverlässige, beschreibende und etwas subjektive Erzählungen von Quasi ließen uns ihm mit besonderem Interesse zuhören.

Abschied von Cvetka

In Berlin sollten wir von einer unserer Teamer Cvetka Abschied nehmen. Es ist erstaunlich, wir kannen sie nur eine Woche, haben aber in dieser Zeit sie sehr liebgewonnen. Mit ihrem Lächeln, ihren strahlenden gutherzigen Augen und ihrer verrückten Frisur sorgte sie für eine besondere Atmosphäre. Ihre Arbeit hat eine neue Person in unserem Kollektiv fortgesetzt – Anne.

Mit der Rückkehr aus Berlin begann die zweite Seminarwoche. Sie wurde hauptsächlich auf Bearbeitung innerer Konflikte ausgerichtet. Besonders ist die Übung „Meine innere Ressourcen“ im Gedächnis geblieben. Zuerst waren wir in eine Traumwelt versunken. Eine leise Musik war zu hören, Anja las uns einen Text vor und wir sollten uns alles vorstellen, was sie sagte. Dann sollte sich jeder von uns auf seine Gedanken konzentrieren und einen Baum malen. Die Wurzeln symbolisieren, wo wir unsere Kraft schöpfen (das war für viele Kommunikation mit Verwandten und Freunden) und die Zweige sind unser Wissen, Hobby, Ziele, Wünsche und Bestrebungen. Wie es sich herausstellte, ist es nicht so leicht sich selbst zurecht zu finden. Aber ich denke, dass wir die Fähigkeit sich selbst zu verstehen in der Zukunft nicht einmal brauchen werden.

Die letzten Veranstaltungen des Seminars waren der Besprechung von bestimmten problematischen Situationen auf der Arbeit gewidmet. Sie sind unvermeidlich. Das Wichtigste ist es zu verstehen, wie man einen richtigen Ausweg finden kann. Es wurden für uns 3 Methoden vorgeschlagen. Und alle 3 konnten wir gemeinsam ausprobieren.

Hartnäckige Arbeit am Tage hat aber beim Feiern am Abend nicht gestört. So wurden alle von der internationalen Hochzeit begeistert, die wir auf polnisch-rumänisch-russische Art und Weise veranstaltet haben. Und damit wir jeden Tag einander mit überraschungen erfreuen konnten, haben wir das Spiel „Geheimer Freund“ organisiert. Gib zu, dass es sehr lieb ist unvermutet auf deinem Bett ein Herzchen aus Sonnenblumenkernen, Glückwunschskarte oder Blumenstrauß vor deiner Tür zu finden!

Abend der französischen Küche

Zu Tradition gehörte es auch, Nationalgerichte zu kochen. Wir haben auch diese Möglichkeit genutzt, mit unserer Küche aufzutreten. Wir haben eine Menge Pelmeni und Vareniki geformt. Ohne falsche Bescheidenheit muss ich sagen, dass alle damit zufrieden waren.

Am letzten Tag teilten wir einander unsere Eindrücke vom Seminar mit. Und wie immer wurde von unseren Teamern eine interessante Form ausgesucht. Auf dem Boden legte man Postkarten aus. Wir sollten 2 davon nehmen, die am besten unsere Empfindungen vom Seminar und von der Rückkehr nach Hause wiederspiegeln. Danach haben wir die Auswertung des Seminars durchgeführt und einander unsere Wünsche geschrieben.

Gerade am dem Tag wurde es offensichtlich, dass die 2 Wochen in Wustrow kein Gefängnis war, wie es uns am Anfang schien, sondern umgekehrt eine wunderbare Zeit, wo wir begreifen konnten, dass wir nicht einsam mit unseren Sorgen hier in Deutschland sind. Mindestens gibt es noch 20 Menschen in derselben Situation. Vielleicht deswegen war der Abschied so traurig. Und den ganzen Tag hat es geregnet. Denn in Deutschland pflegt man zu sagen, dass wenn gute Leute auseinander fahren, regnet es.

Dilara Dilmukhametova, 28.01.05